Margaret Lavinia Anderson: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Aus dem Englischen von Sibylle Hirschfeld (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte; Bd. 22), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 562 S., ISBN 978-3-515-09031-5, EUR 29,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Karl Otmar von Aretin: Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II., Stuttgart: Klett-Cotta 2003
Peter Winzen: Das Ende der Kaiserherrlichkeit. Die Skandalprozesse um die homosexuellen Berater Wilhelms II. 1907-1909, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010
Michael Epkenhans / Andreas von Seggern (Hgg.): Leben im Kaiserreich. Deutschland um 1900, Stuttgart: Theiss 2007
Rudolf A. Mark: Im Schatten des Great Game. Deutsche "Weltpolitik" und russischer Imperialismus in Zentralasien 1871-1914, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012
Andreas Biefang / Michael Epkenhans / Klaus Tenfelde (Hgg.): Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871-1918, Düsseldorf: Droste 2008
Viel Wirbel gab es nicht, als die preußische Regierung 1867 dem sich konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes einen Verfassungsartikel vorlegte, der das allgemeine, direkte und gleiche Männerwahlrecht festschrieb. Die Reaktionen waren unaufgeregt, ja weitgehend neutral, als seien von der Neuerung keine allzu großen Veränderungen oder gar Umstürze zu erwarten - der gewonnene Krieg gegen Österreich von 1866 stärkte das Vertrauen in politische Maßnahmen. Was aber geschah, nachdem dieses radikal individualisierende Wahlsystem eingeführt worden war? Wie nahmen die Deutschen ihr Stimmrecht wahr, das Arm und Reich gleich behandelte? Und was bedeutete es für die politische Kultur im Kaiserreich, dass seine Bürger lange vor Deutschlands erster parlamentarischer Regierung begannen, demokratische Verfahrensweisen einzuüben?
Wenn eine ausgewiesene Expertin für die deutsche politische Kultur und den politischen Katholizismus des 19. Jahrhunderts wie Margaret Lavinia Anderson, Professorin für europäische Geschichte an der kalifornischen Universität Berkeley, sich der Frage nach der "Modernität" des Kaiserreichs annimmt, ist als Ergebnis eine innovative Studie mit Tiefgang zu erwarten. Ihr Buch "Practicing Democracy: Elections and Political Culture in Imperial Germany", im Jahr 2000 bei Princeton University Press erschienen und nun als Übersetzung vorliegend, bietet genau das: Den Leser erwartet eine umfassende, differenzierte und quellengesättigte Untersuchung über die Wahlkulturen im Deutschen Kaiserreich.
Anderson unterscheidet in ihrem Werk den politischen Ist-Zustand der Demokratie von der Erfahrung im Umgang mit demokratischen Gepflogenheiten: Das Kaiserreich sei keine Demokratie gewesen, trotzdem, so ihre These, hätten die Deutschen - genauer: die männlichen Deutschen, die das Alter von 25 Jahren erreicht hatten - in den "Lehrjahren" von 1867 bis 1918 ständig Gelegenheit gehabt, zur Wahl zu gehen, sich mit Parteien, Kandidaturen und Wahlkampf auseinanderzusetzen - und diese Möglichkeiten auch durch alle Klassen hindurch genutzt. Nur wenige europäische Staaten, etwa Frankreich, konnten ein ähnlich frühes und umfassendes Wahlrecht vorweisen, die meisten hinkten deutlich hinterher, Großbritannien eingeschlossen, wo ein egalitäres Wahlrecht wie das deutsche erst 1918 eingeführt wurde. Die Deutschen des Kaiserreichs übten sich also, so die Autorin, regelmäßig in demokratischer Praxis: Von 1871 bis 1893 fanden nationale Wahlen alle drei Jahre statt, und um die Sitze im Reichstag stritten in der Regel mehrere Kandidaten. Wahlkämpfe für die Landtage heizten das politische Klima zusätzlich an. Die Wahlbeteiligungen lagen nicht selten bei über 80 Prozent. Wahlproteste und -anfechtungen waren jedem möglich, kam für die Kosten doch der Staat auf und nicht, wie in vielen anderen Ländern, der Kläger selbst. Der angebliche Obrigkeitsstaat, so ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung, sei für die Zeitgenossen in erster Linie ein Rechtsstaat und die Wähler an festgelegte Formen von Rechtsstaatlichkeit gewöhnt gewesen - was nicht heißt, dass es keine Verstöße gegen das Recht gab oder hierarchische Zwangsmaßnahmen. Aber Bestechung, Gewalt und Betrug, die im 19. Jahrhundert etwa in den USA oder Spanien viel stärker zur Wahlkultur gehörten, finden sich bei den deutschen Wahlen in deutlich geringerem Ausmaß.
Mit der Auswahl ihrer Untersuchungspunkte nimmt Anderson insbesondere die Wahrnehmungsebenen und Handlungsspielräume der beteiligten Personen und Gruppen in den Blick. Sie zeichnet im ersten Teil des Buches den "Rahmen" des politischen Feldes nach und stellt die gesetzlichen und lokalen Bedingungen der Wahlen zwischen Geheimnis und Offenlegung, Privatheit und Öffentlichkeit vor. Als "Kraftfelder" betitelt sie sodann die Zwänge, denen die Wähler ausgesetzt waren, wie etwa staatliche oder lokale Machtstrukturen. Ein dritter Teil beschäftigt sich mit den "Graden der Freiheit", die die Akteure besaßen, um ihre Handlungsspielräume zu nutzen und auszuweiten. Die einzelnen Themenbereiche werden jeweils überregional und chronologisch behandelt, wobei die gesamte Dauer des Kaiserreichs berücksichtigt und immer wieder ein vergleichender Blick auf die europäischen Nachbarstaaten geworfen wird.
Die Fülle an Details in diesem Werk ist beachtlich, das ausgewertete Archivmaterial umfasst unter anderem Reglements und Pamphlete, Beschwerdebriefe und Vorschläge von Wählern, wie die Wahlen im Sinne eines Kandidaten oder einer Partei zu optimieren seien. Die vielen kleinen Geschichten formen das Bild einer Wahlkultur, in der der falsche Name auf dem Stimmzettel einen Arbeiter die Anstellung kosten konnte, in der aber auch Maßnahmen gegen hierarchischen Zwang und Wahlkontrolle durch Brot- und Fabrikherren möglich waren. Der Leser erfährt, wie Vereinsgeist den kollektiven Wahlgang (und Wahlzwang) begünstigte, wie sich Geheimniswahrung durch die Einführung von Wahlumschlägen und -kabinen in der Praxis bewähren musste und welchen Einfluss das Wahlsystem auf die Parteistrukturen haben konnte: Die Sozialdemokratie profitierte von der Rechtsstaatlichkeit des Kaiserreichs sogar unter dem Sozialistengesetz, später brachte ihr die offene Wahlunterstützung des Kaisers für die konservativen Parteien nicht nur in Preußen zusätzliche Stimmen ein. Anderson will zeigen, "dass hier Haltungen und Verhaltensweisen zu finden waren, die wir zu Recht nicht nur preußisch oder sächsisch oder bayerisch, sondern deutsch nennen können." (48)
Die Arbeit vertritt eine Forschungsrichtung, die es als wesentlich erachtet, die Geschichte des 19. Jahrhunderts zu deuten, um die des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Anderson widerspricht dennoch der These vom "deutschen Sonderweg" und damit der mittlerweile vielfach diskutierten und relativierten Annahme, dass die Führungsschichten in Deutschland sich vor allem durch ihre antiparlamentarische und antidemokratische Haltung ausgezeichnet hätten. Anders gewendet, schließt sie sich der Forschungsmeinung an, dass die politischen Entwicklungen in den westeuropäischen Staaten keinesfalls so viel "demokratischer" verlaufen seien als im Kaiserreich.
Zwei Punkte seien abschließend noch genannt, die nur deshalb am Ende dieser Ausführungen stehen, weil sie hervorgehoben gehören: Erstens, dass dieses Buch einfach Freude beim Lesen bereitet. Anderson schreibt lebendig, witzig und spricht ihre Leser immer wieder persönlich an. Zum Zweiten ist es der Übersetzerin Sibylle Hirschfeld nicht nur gelungen, Ironie und Sprachwitz der Autorin zuvorkommend in die deutsche Ausgabe zu geleiten, sondern vor allem Bedeutungsnuancen kenntnisreich aus dem Englischen zu übertragen. Wer sich über die Geschichte der Reichstagswahlen sowie über deutsche und europäische politische Kulturen vor 1918 informieren möchte, trifft mit diesem Buch die richtige Entscheidung. Und stellt sich nach der Lektüre die Frage, wie es zu erklären sein kann, dass das System des Parlamentarismus in der Weimarer Zeit trotz dieses langen Aneignungsprozesses der Demokratie versagte. Dieses Buch sollte nun folgen.
Heidi Mehrkens