Ulrike Matzke: England und das Reich der Ottonen in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Beziehung und Wahrnehmung von Angelsachsen und Sachsen zwischen Eigenständigkeit und Zusammengehörigkeit (= Göttinger Forschungen zur Landesgeschichte; Bd. 16), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2009, 184 S., ISBN 978-3-89534-756-6, EUR 19,00
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Eine von der modernen Forschung, die sich mit der Geschichte Englands und des Kontinents bislang befasst hat, noch nie hinterfragte Grundannahme ist, dass zwischen den Angelsachsen und den Sachsen aufgrund ihres gemeinsamen Ursprungs im Mittelalter ein lebendiges Bewusstsein von alter Zusammengehörigkeit oder - moderner formuliert - ein ethnisches Wir-Gefühl bestanden habe. Diese Idee wurde bereits seit den Anfängen der modernen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert beschworen. Insbesondere Karl Leyser hat in den 1980er Jahren diese Vorstellung eines gentilen Verwandtschaftsgefühls vehement propagiert, wobei ihm die deutsche Forschung gefolgt ist. Eine solche Annahme entspricht der bisherigen Ansicht der Forschung, nach welcher die Beziehungen zwischen England und den Sachsen besonders gut und eng gewesen seien. Dieses vermeintliche Zusammengehörigkeitsgefühl wurde oftmals als wichtige oder gar entscheidende Motivation für Kontakte, Tauschvorgänge, Gesandtschaften, Verbrüderungen oder Heiratsbeziehungen zwischen England und Sachsen im Mittelalter verstanden.
Ulrike Matzke überprüft in ihrer 2007 eingereichten Göttinger Magisterarbeit erstmals kritisch diese Annahme der Forschung. Die Verfasserin zieht die angelsächsischen und sächsischen Herkunftsgeschichten vom 6. bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts zu Rate und untersucht, ob und in welchen Kontexten auf eine gemeinsame Abstammung verwiesen wurde. Dazu fragt Matzke anhand der Analyse der vorrangig historiographischen Quellen, "inwieweit sich zur eigenen oder gegenseitigen Identifikation ein Bezug zu einer gemeinsamen Herkunft nachweisen lässt" (11). Der Titel der Studie, 'England und das Reich der Ottonen in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts', ist allerdings irreführend, denn die Verfasserin stellt lediglich auf wenigen Seiten die Kontakte zwischen England und dem ottonischen Reich nach der Sekundärliteratur zusammen; hierbei geht sie fast ausschließlich auf die Heiratsverbindung zwischen Otto I. und Edith von 929 ein (50-53). Die Arbeit Matzkes behandelt vielmehr die angelsächsischen und sächsischen Herkunftsgeschichten, dabei ist der zeitliche Rahmen vom 6. bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts sehr viel weiter gespannt, als der Titel verrät.
In der Einleitung legt die Verfasserin knapp die Relevanz ihres Themas offen und formuliert ihre Fragestellung, danach geht sie ausführlich auf die Quellen und auf den aktuellen Forschungsstand ein. Bei der Vorstellung der Charakteristik der Quellen problematisiert Matzke deren Aussagehorizont und den aus ihrer Sicht kritikwürdigen Umgang der älteren Forschung mit der frühmittelalterlichen Historiographie. Bei der Diskussion des Forschungsstands werden die Untersuchungen zu Beziehungen von Matzke nur gestreift, dagegen werden die Erforschung der Herkunftsmythen und die vor allem nationalen und ethnischen Deutungsmuster seit dem 19. Jahrhundert ausführlich dargestellt. Besonders hilfreich ist die aktuelle Übersicht zur Ethnogeneseforschung (21-37), die seit Reinhard Wenskus und den Arbeiten der Wiener Schule insbesondere die Stammessagen für ihre Untersuchung heranzieht.
In einem einführenden Kapitel skizziert Matzke den historischen Kontext der Herkunftsmythen, indem sie die Geschichte des angelsächsischen Britanniens und des ottonischen Reichs einschließlich der gegenseitigen Beziehungen beschreibt. Dies kann auf 15 Druckseiten nur ein sehr oberflächlicher Überblick bleiben, zudem stellt die Verfasserin lediglich ältere Überblicksdarstellungen zusammen und präsentiert keine neuen Ergebnisse. Hier hätte ein Verweis auf die bisherige Forschung genügt.
Die Quellenanalyse wird durch eine längere Zusammenschau der Abstammungsmythen der Angelsachsen und der Sachsen sowie der Positionen der historischen Forschung seit dem 19. Jahrhundert eröffnet. Immer wieder bringt die Verfasserin pointierte Kritik an der älteren Forschung an, die aus den Stammessagen einen historischen Kern isolieren wollte, doch lassen die Texte nach Matzke keine Rückschlüsse auf historische Abläufe zu. Die eigentliche Quelleninterpretation beschäftigt sich in einem ersten Schritt mit der Konstruktion der angelsächsischen Identität im angelsächsischen Britannien bzw. der sächsischen Identität im ostfränkisch-ottonischen Reich. In einem zweiten Arbeitsschritt steht die Erwähnung und Rolle der Abstammung und Frühgeschichte der Sachsen in der angelsächsischen Geschichtsschreibung bzw. der Angelsachsen in der ostfränkischen Historiographie im Mittelpunkt. Matzke untersucht das Auftreten von identitätsstiftenden Beschreibungen der Abstammung, nimmt den Kontext der Erwähnungen in den Blick und fragt nach der Einbindung in den Erzählzusammenhang. Dabei kommt vor allem einer exakten Analyse der Bedeutungsgeschichte von gentilen Bezeichnungen in den Stammessagen eine wichtige Rolle zu. Schließlich ordnet die Verfasserin diese Darstellungen den Interessen und Aussageabsichten der mittelalterlichen Autoren zu.
Die Quellenuntersuchung zeigt, wie selten eine gemeinsame Herkunft in den angelsächsischen und sächsischen Stammessagen erwähnt wird. Wenn eine solche Abstammung angeführt wurde, dann standen dahinter nie weitreichende Absichten, sondern es wurden lediglich sehr spezifische gegenwartsbezogene Interessen verfolgt. Die meisten angelsächsischen Herkunftsmythen machen eine klare Trennung zwischen den christlichen Angli und den heidnischen Sachsen. Die sächsischen Quellen zeigen hingegen eine starke Konzentration auf das eigene Volk und dessen eigenständige Geschichte. Insgesamt wird deutlich, dass in erster Linie ein Bezug auf das Eigene in den Stammessagen niedergelegt wurde, Verbindungen zu anderen Gentes dagegen fast nie eine Rolle spielten.
In ihrem knappen Fazit formuliert Matzke das zentrale Ergebnis ihrer Arbeit, nach welchem kein gentiles Zusammengehörigkeitsgefühl in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts existiert habe (164-165). Stattdessen habe es "stets den Versuch einer selbständigen Identifikation der eigenen Gesellschaft oder Bevölkerungsgruppe" (164) gegeben. Gestützt auf ihre präzise Quellenanalyse kann Matzke damit die bisherige Grundannahme der Forschung überzeugend widerlegen. Die Verfasserin legt allerdings insgesamt einen zu großen Wert auf die Wiedergabe von Fakten und Forschungspositionen; eine stärkere Konzentration auf die Widerlegung der alten Forschungsthese wäre wünschenswerter gewesen. Die konzise Quelleninterpretation Matzkes aber überzeugt, womit sie eine in der Forschung häufig bezogene Position entkräften kann.
Auch die Quellen nach der Mitte des 10. Jahrhunderts erwähnen bis in das Hochmittelalter hinein nur selten eine gemeinsame Abstammung von Angelsachsen und Sachsen. Ebenso wenig lassen sich diese späteren Zeugnisse für eine Bestätigung der Annahme, es habe ein gemeinsames Wir-Gefühl gegeben, herangezogen werden. Somit müssen zukünftig andere Motive für Kontakte zwischen England und Sachsen im Frühmittelalter von der Forschung herausgearbeitet werden. Weiterhin belegt auch die Arbeit Matzkes, wie uneinheitlich und zum Teil sogar gegensätzlich sich Herkunftsmythen eines Volkes zwischen dem 6. und 10. Jahrhundert ausnehmen konnten. Auch vor diesem Befund ist zukünftig kritisch zu hinterfragen, wie wichtig ethnische Kategorien im Frühmittelalter tatsächlich waren und welche sozialen Funktionen Stammessagen besaßen.
Andreas Bihrer