Steffen Patzold: Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 25), Ostfildern: Thorbecke 2008, 659 S., ISBN 978-3-7995-4276-0, EUR 79,00
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Die Hamburger Habilitationsschrift geht von dem Befund aus, dass der tiefgreifende Wandel, den der politische Einfluss des Episkopats unter den Karolingern erfahren hat, zwar durchaus erkannt, in seiner Ausprägung und seinen Ursachen allerdings noch ungeklärt ist. Anhand einer sorgsam analysierten und akribisch belegten Materialfülle über die Stellung und Funktion der Bischöfe will Patzold diesen Wandel exakter datieren und erklären. Als methodische Grundlage dienen ihm von Peter Berger und Thomas Luckmann entwickelte Paradigmen aus der Wissenssoziologie sowie deren erweiterte Unterscheidung zwischen kategorialem und materialem Wissen nach Achim Landwehr. Nur kategoriales Wissen konstituiert soziale Wirklichkeit. Diese Prämisse erlaubt eine Anknüpfung des kategorialen formgebenden Wissens über Bischöfe an das zugrunde gelegte, auf soziale Zuschreibungen gegründete Machtkonzept, wie sie Barry Barnes entworfen hat. Demnach ergibt sich Macht "aus dem Wissen der Mitlebenden, daß der Bischof zu bestimmten Handlungen berechtigt oder fähig sei" (509). In diesem methodischen Zugriff werden die zahlreichen Hinweise auf das kategoriale Wissen über Bischöfe und ihre soziale Stellung als Belege für die soziale Wirksamkeit dieses Wissens gedeutet, da Wissen sozial festgelegt ist. Mit diesem Instrumentarium gerüstet, fragt Patzold danach, welches Kategorien etablierende Wissen über Bischöfe im 9. und frühen 10. Jahrhundert verbreitet und sozial wirksam wurde, welchem Wandel es unterlag und welche Vorstellungen die Zeitgenossen sich über die Fähigkeiten von Bischöfen machten, andere Menschen zu bestimmtem Handeln zu bewegen.
Patzold erklärt die 820er Jahre zur entscheidenden Umbruchsperiode, in der ein neues Bischofsmodell konzipiert worden sei. Der Ordinatio von 823/825 und den Akten des Pariser Synode von 829 kommt, wie u. a. schon von Nikolaus Straubach erkannt, in diesem Prozess eine Schlüsselrolle zu. Dort macht Patzold erstmals ministerium, adiutorium und auctoritas als neue Schlüsselkonzepte bischöflicher Amtsführung aus, die er als "Pariser Modell" tituliert. Damals wurde auch die Gelasianische Zwei-Gewalten-Lehre von Seiten der Bischöfe ins Feld geführt. Beichte, Buße und Exkommunikation wurden zu den Hauptinstrumentarien zur Besserung der Menschheit und damit die Bischöfe in ihrer Verantwortung vor Gott zu den wichtigsten Akteuren erklärt.
Dass die Rezeption dieses neuen Modells nicht schlagartig und in allen Regionen oder Genres gleichmäßig verlief, ist verständlich. Sensationell ist ohnehin weniger die Erarbeitung und Verbreitung des neuen Modells, als vielmehr dessen nachhaltige Etablierung. Diesen Prozess darzustellen, ist die eigentliche Leistung Patzolds, widerlegt er damit doch die gängige Sichtweise, wonach die Reformvorschläge von 823/825 und 829 wirkungslos geblieben seien. Letzteres trifft zwar insofern zu, als jene Normen in der Praxis zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen hatten. Doch schon für die 830er Jahre belegt Patzold akribisch jene Kernelemente im Wissen über den Episkopat, die dem "Pariser Modell" entsprachen. Ein Meilenstein war dabei Ludwigs des Frommen Buße im Jahr 833, die nach den Kategorien des "Pariser Modells" inszeniert wurde. Beichte, Buße Exkommunikation wurden dadurch Bestandteile öffentlicher Inszenierungen, die in der Kompetenz der Bischöfe lagen.
Eine "beachtliche Verbreitung" der Schlüsseltexte von 823/825 und 829 kann Patzold für die zweite Hälfte des 9. Jh. nachweisen. Einschlägige Aussagen bieten Konzilsakten, vor allem 846 und dann in den 850er und frühen 860er Jahren sowie 874 und 881 - mit regionalen Schwepunkten in Lothringen und den Kirchenprovinzen Reims und Sens (280), während ostfränkische Synoden erst in den 880er Jahren eine entsprechende Rezeption erkennen lassen. Auch Könige und weltliche Große haben das "Pariser Modell" nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch die damit verbundenen Denkmuster und Kategorien reproduziert. Durch Abschriften der Schlüsseltexte sowie die Übernahme ihrer Kernelemente in anderen Quellen konnte sich das Modell zu selbstverständlichem Wissen verfestigen. Reichsversammlungen, Synoden und deren Beschlüsse sorgten darüber hinaus für die stetige Verbreitung.
Auch in der Annalistik des späten 9. Jahrhunderts zeigt sich eine stärkere Ausrichtung auf bischöfliches Handeln; eine explizite Berufung auf das "Pariser Modell" lässt sich aber nicht belegen, ganz anders in den - damals und zudem nur im westfränkischen Reich aufkommenden - "Gesta episcoporum". Deutliche Anklänge an Begrifflichkeiten und Motive des "Pariser Modells" kann Partzold zudem in insgesamt 38 spätkarolingischen Bischofsviten nachweisen. Dort spiegelt sich gemäß dem hagiographischen Charakter ein Bischofsideal wider, das seinerseits dem in den 820er Jahren geschaffenen Bischofsmodell entlehnt ist. Eine identische Vorstellung vom Bischofsbild präsentieren die normativen und narrativen Quellen demnach keinesfalls, so dass Patzold zu Recht anmahnt, Studien zum Bischofsbild einer Epoche nicht auf eine Textart zu beschränken.
Patzold beschließt seine Studie mit einer Reihe weiterführender Folgerungen, mit denen er an laufende Diskussion der Mediävistik anschließt. Er sieht seine Arbeit verortet in der allgemeinen Tendenz, der Spätzeit Ludwigs des Frommen eine epochale Bedeutung beizumessen. Denn die krisenhafte Stimmung der 820er Jahre gab den Anstoß, das Reich nach Gottes Willen zu ordnen, die Zuständigkeiten der Amtsträger neu zu definieren und das Zusammenwirken bischöflicher und königlicher Kompetenzen zum allgemeinen Wohl zu organisieren. Die Teilhabe der Bischöfe an der öffentlichen Gewalt ist Folge dieses Prozesses. Indem Patzold den radikalen Wandel und die Neuorientierung unter Ludwig dem Frommen betont, nivelliert er nicht nur die bislang angenommenen Besonderheiten der ottonischen "Reichskirche", sondern insgesamt den Einschnitt zwischen Karolingern und Ottonen in Bezug u.a. auf die staatliche Verfasstheit des Reiches. Die schon unter Ludwig dem Frommen erhöhte Stellung der Bischöfe erklärt sich dabei weder aus ihrer meist adligen Provenienz noch aus königlicher Delegation (oder gar Instrumentalisierung), sondern, nach deren Selbstverständnis, aus ihrem von Gott übertragenem ministerium und ihrer Stellvertreterschaft Christi. Mit diesen Kategorien entzieht sich der Episkopat letztlich dem Zugriff der "Neuen Verfassungsgeschichte" und ihrem zweipoligen Modell von Adel und Königtum.
Als Indikator dieser Entwicklung dient das kategoriale Wissen über Bischöfe, das auf der Basis des "Pariser Modells" etabliert wurde. Das Ergebnis zur Wirksamkeit dieses Modells wirft eine weitere - dort allerdings ausgesparte - Frage auf: Was gab den Bischöfen die Macht, ihr neuartiges Modell selbstbewusst überhaupt nur zu formulieren und in der Folge durchzusetzen? Anders gefragt: Wenn es Ausdruck von Macht ist, soziale Kategorien zu benennen, inwieweit ist die Etablierung des "Pariser Modells" Ursache, inwieweit bereits Ausdruck gesteigerter bischöflichen Macht?
Neben seinen zentralen Ergebnissen liefert Patzold eine Reihe sehr bemerkenswerter, hier nicht anzuzeigender Einzelbeobachtungen. An dem innovativen methodischen Zugang mag allenfalls der völlige Verzicht auf den Diskurs-Begriff überraschen, zumal dieser Achim Landwehrs (von Partzold aufgegriffener) Unterscheidung von materialem und kategorialem Wissen zugrund lag. Aber ohne Frage ist dieses aus den Quellen gearbeitete und reich belegte Buch in Methodik und Ergebnis wichtig und wegweisend.
Florian Hartmann