Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Thomas Lindenberger: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952 - 1968, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
Hubertus Knabe: Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur, 3. Aufl., Berlin / München: Propyläen 2007
Andreas Kötzing (Hg.): Bilder der Allmacht. Die Staatssicherheit in Film und Fernsehen, Göttingen: Wallstein 2018
Klaus Marxen / Annette Weinke (Hgg.): Inszenierungen des Rechts. Schauprozesse, Medienprozesse und Prozesse, Medienprozesse und Prozessfilme in der DDR, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2006
Klaus Marxen / Moritz Vormbaum / Gerhard Werle: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz, 2. Aufl., Berlin: De Gruyter 2020
In der Aufarbeitung der SED-Diktatur blieb die strafrechtliche Verfolgung stets ein Nebenschauplatz. Dominant war der Stasi-Diskurs, vor allem die Millionen von Einsichtnahmen in die "eigene" Stasi-Akte und die Fahndung nach inoffiziellen Mitarbeitern im öffentlichen Leben. Daraus resultierten keine Hunderttausende von Strafverfahren, denn der Rechtsstaat erwies sich für die Sühne dieser Art von Unrecht als nur bedingt tauglich. In gewisser Weise entsprach diese eher zweitrangige Rolle der Justiz aber auch der Physiognomie des SED-Regimes nach dem Mauerbau. Die DDR war in dieser Phase vor allem ein präventiver Überwachungsstaat, der auf den Massendelikten von Denunziation und Bruch der Privatsphäre basierte. Aus politischen Gründen getötet wurde in der DDR allerdings bis zuletzt. Namentlich der Schießbefehl an der Grenze bildet deshalb den eigentlichen Kern des vorliegenden Kompendiums, das zugleich die Breite des Spektrums strafrechtlich relevanter Taten des SED-Regimes und seiner Akteure vor Augen führt.
Was mit Zehntausenden Ermittlungsverfahren begann, endete mit einer Handvoll rechtskräftiger Verurteilungen zu Gefängnisstrafen. In dem Projekt, dem die hier zu besprechenden Bände entstammen, wurden 1.021 Strafverfahren mit 1.737 Beschuldigten erfasst - Verfahren also, in denen die Ermittlungsergebnisse für eine Anklageerhebung ausreichten (Spionageverfahren gegen Westdeutsche sind hier nicht enthalten). Am Ende standen 753 rechtskräftige Verurteilungen, aber nur 40 Haftstrafen ohne Bewährung. Vor diesem Hintergrund erscheint die vorliegende Dokumentation auf den ersten Blick als schier grenzenlos masochistisches Zeugnis einer Rechtswissenschaft, die ihr Scheitern zelebriert. Doch dieses voluminöse Kompendium bietet viel mehr als nur den Abdruck von Freisprüchen, Verfahrenseinstellungen und Winkelzügen geschickter Verteidiger. Es liefert einen sehr kundig zusammengestellten Wegweiser durch die Strafverfolgungspraxis bei "systembedingtem DDR-Unrecht", dessen Hauptzweck es ist, alle wesentlichen rechtstatsächlichen und juristischen Deliktgruppen, Falllagen und rechtlichen Argumentationen in den maßgeblichen Anklageschriften bzw. Entscheidungstexten der Gerichte abzubilden.
Trotz des immensen Umfangs von zehn Bänden handelt es sich keineswegs um eine Totaledition ermüdender Gerichtsprotokolle, sondern um ein Kondensat des Relevanten, dessen Nützlichkeit und Bedeutung sich beim Lesen erst nach und nach erschließt. Gleich, wo man in die Bände hineinblättert, findet man nach wenigen Zeilen einen Anknüpfungspunkt: Den Namen eines prominenten SED-Funktionärs, die Diskussion eines zentralen juristischen Problems wie dem Rückwirkungsverbot oder ein Fallgeschehen, das man bislang nur in groben Umrissen kannte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine genauere Darstellung der Fälschungen, die bei der Kommunalwahl 1989 vorgenommen wurden, wird sich kaum finden lassen als in den Verfahren gegen den Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und andere Verantwortungsträger (Band 1).
Möglich wurde dieses Unternehmen unter Leitung der Berliner Strafrechtslehrer Klaus Marxen und Gerhard Werle auf der Basis einer engen Kooperation mit den Landes- und Bundesjustizbehörden, aus deren Informationen eine Datenbank mit allen einschlägigen Verfahren zusammengestellt wurde. Nicht erfasst ist lediglich die sogenannte Wende-Kriminalität, also die Fälle, in denen nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes Kader versuchten, sich illegal einen Startvorteil im neuen System zu verschaffen. Die gut tausend Verfahren sind in den Anhängen der Bände als Überblick komplett aufgelistet und sollen in der Zukunft über einen Online-Zugriff auch mit den einschlägigen Dokumenten recherchierbar werden. Ausführlich im Wortlaut dokumentiert sind Urteilstexte bzw. (bei Verfahrenseinstellungen) Anklageschriften zu einem repräsentativen Spektrum von Fallgruppen: Wahlfälschung, Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Amtsmissbrauch und Korruption, Spionage, Rechtsbeugung, Straftaten des Ministeriums für Staatssicherheit, Gefangenenmisshandlung und Doping. Außerdem wurde Wert auf eine angemessene geografische Verteilung sowie auf die Berücksichtigung von Angeklagten aus allen Hierarchiestufen des SED-Staates gelegt.
Die Anklage- und Urteilstexte sind durchdacht zusammengestellt und von Redundanzen befreit. Dadurch werden die für den Laien kaum lesbaren juristischen Texte in eine verdauliche Form gebracht. Hervorzuheben sind auch die Einleitungen der Bandbearbeiter zu den jeweiligen Fallkomplexen. Es handelt sich um Jan Müller, Toralf Rummler, Willi Fahnenschmidt, Roland Schissau, Mario Piel, Ivo Thiemrodt, Boris Burghardt, Ute Hohoff und vor allem Petra Schäfter, die an allen Bänden mitwirkte. Ihr persönlicher Anteil ist allerdings nur versteckt erkennbar: "unter Mitarbeit von" heißt es in den Innentiteln der Bände; unter den Einleitungsaufsätzen tauchen gar keine Namen auf. Soll der Leser also tatsächlich davon ausgehen, dass die beiden Gesamtherausgeber all diese Arbeiten vorwiegend persönlich geleistet haben? Allerdings haben einige der Genannten über ihre Themengebiete promoviert und bieten somit in monografischer Form vertiefende Analysen.
Der historische Wert dieser Dokumentation liegt auf mehreren Ebenen. Zum einen lassen sich darin die Mühen der Justiz nachvollziehen, zu einer rechtsstaatlich abgesicherten Sühne zu gelangen. Praktisch in allen Verfahren spielte etwa das Rückwirkungsverbot eine große Rolle, ebenso die aus der NS-Aufarbeitung sattsam bekannten Probleme, staatlich veranlasstes, gesetzlich abgedecktes Unrecht überhaupt strafrechtlich zu fassen. Sehr deutlich wird auch der letztlich selektive Charakter der Strafverfolgung, die sich den Realitäten von Beweisführung und Prozessfähigkeit zu stellen hatte. So ist unübersehbar, dass der Stalinismus der 1950er Jahre als schärfste Repressionsphase deutlich unterbelichtet blieb, weil es an belastbaren Sachbeweisen und Zeugenaussagen fehlte. Diese Phase ist hier vor allem in den Rechtsbeugungsverfahren gegen beteiligte Juristen vertreten. Zudem waren die höchstrangigen verantwortlichen Funktionäre auch die ältesten. So schieden etwa die stellvertretenden Minister für Staatssicherheit wegen Prozessunfähigkeit meist früher oder später aus den Verfahren aus. Erich Mielke selbst ist bekanntlich (trotz zahlreicher Ermittlungsverfahren wegen seiner Verantwortung als Minister für Staatssicherheit) lediglich wegen einer Mordtat weit vor dem Beginn seiner DDR-Laufbahn verurteilt worden. Die Urteile sowjetischer Militärtribunale bis 1955, die härtesten Fälle politischer Verfolgung in der DDR, blieben ohnehin außerhalb der deutschen Jurisdiktion und hatten lediglich in Form von (überwiegend posthumen) Rehabilitierungen ein Nachspiel in den 1990er Jahren.
Gleichwohl galt die Devise "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen" in den Verfahren wegen DDR-Unrecht gerade nicht. Besonders beeindruckend dafür sind die beiden Bände zu den Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, immerhin 275 Fälle. Wer über den Zusammenhang von "Normalität" und kommunistischer Diktatur in der DDR-Gesellschaft nachdenkt, findet hier viel Stoff: Die Lebensschilderungen der jungen Männer, die das Schicksal zum Wehrdienst in den Grenztruppen der DDR verschlug, die ein angepasstes Leben geführt hatten, gerne mal den Westen gesehen hätten und sich nicht besonders für Politik interessierten. Sie hofften, niemals auf Flüchtlinge schießen zu müssen, waren aber auch bereit, den Grenzdienst zu machen, weil sie sonst von ihren Kameraden als Drückeberger behandelt wurden. So heißt es in der Urteilsbegründung über einen Angeklagten im Prozess gegen die Mörder von Chris Gueffroy, dem letzten Todesopfer an der Berliner Mauer: "Als er dann in das Grenzregiment 33 gekommen sei, sei er gefragt worden, ob er auf Menschen schießen könne. Dies habe er gegenüber dem Kommandeur verneint und habe daraufhin keinen Grenzdienst, sondern Küchendienst verrichten müssen. Er sei deswegen von seinen Kameraden gehänselt und als 'Küchenschabe' bezeichnet worden, was er als grobe Erniedrigung empfunden habe. Nach Gesprächen mit Kameraden habe er sich schließlich schriftlich verpflichtet, sein Vaterland unter Einsatz der Schusswaffe zu verteidigen. Er sei sich zu diesem Zeitpunkt nicht sicher gewesen, ob er wirklich auf Menschen würde schießen können und habe nur aus dem Küchendienst herausgewollt." (Band 2.1, 29) Wie die meisten Mauerschützen erhielt der Angeklagte eine Bewährungsstrafe. Anders erging es zumindest einigen verantwortlichen Befehlsgebern: Band 2.2 ist ausschließlich den beiden spektakulären Verfahren gegen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates und des Politbüros gewidmet - jenen Verfahren, in denen Spitzenfunktionäre des SED-Staates tatsächlich zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Es war dieser Tatkomplex, der auch in Zeiten von Entspannung und Lockerung des Regimes stets virulent blieb und deutlich machte, wie sehr die DDR auf die Undurchlässigkeit dieser Grenze als Kompensation für ihre fehlende demokratische Legitimation angewiesen war.
Gut sichtbar wird in der Dokumentation auch die unterschiedliche Verfolgungspraxis der späten DDR-Justiz 1989/90 und der bundesdeutschen Justiz nach dem Beitritt. Grotesk ist in dieser Hinsicht der rasante Sinneswandel von DDR-Richtern und -Staatsanwälten seit November/Dezember 1989. Plötzlich gingen sie daran, mit besonderem Nachdruck all jene zu verfolgen, die ihnen bislang in der führenden Partei (deren Mitglied sie durchweg gewesen waren) die Wege gewiesen hatten - bis hin zur spätstalinistisch anmutenden Verfolgung Honeckers wegen Hochverrats, die allerdings das Stadium der Anklageerhebung nicht erreichte. Die Schwerpunkte der DDR-Strafverfolgung 1990 lagen auf den öffentlichkeitswirksamen Themen des Jahres 1989, nämlich Fälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai (während alle vorangegangenen Wahlen niemals zum Gegenstand von Strafverfahren wurden) und Fällen von Amtsmissbrauch und Korruption. Die Tötungsdelikte des SED-Regimes hingegen hatten bis zum Beitritt zur Bundesrepublik noch keine Verfolgungsaktivitäten ausgelöst.
Die zweite wesentliche Dimension dieser Sammlung liegt in ihrem Wert für die historische Forschung zur DDR. Auf die Fallschilderungen zu den Mauerschützen und die Rekonstruktion der Wahlfälschungen wurde schon verwiesen. Das Material ließe sich durch Vernehmungsprotokolle usw. noch beträchtlich vermehren. Aber schon so zeigt sich, dass auch im Falle der DDR, deren Erforschung ja ohnehin nicht an Materialmangel leidet, Gerichtsakten wesentliche historische Quellen darstellen können, die die klassischen politisch-bürokratischen Aktenüberlieferungen an vielen Punkten korrigieren und relativieren.
Trotz des strafprozessual bedingten Übergewichts von Fällen aus den späten Jahren der DDR ergibt sich auch aus der Vielfalt der Tatkomplexe und Akteure ein genauerer historischer Blick auf das SED-Unrecht. Ein Band über die Staatssicherheit reicht vom Bruch des Postgeheimnisses bis zu Mordattacken gegen Fluchthelfer. Der zweite behandelt die Spionageverfahren, die im Falle aus der DDR agierender HVA-Offiziere nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht von 1995 sämtlich eingestellt wurden, sofern nicht "Begleitdelikte" wie Entführungen und Erpressungen zum Tragen kamen. Die Verfahren gegen westdeutsche Agenten sind an sich in der Dokumentation ausgespart, allerdings sind die prominentesten Spione wie Rainer Rupp und Gabriele Gast hier trotzdem vertreten, weil sie gemeinsam mit ihren ostdeutschen Führungsoffizieren angeklagt (und im Falle der Westdeutschen auch verurteilt) wurden. Aber daneben gab es eben noch viele andere Komplexe jenseits der in der öffentlichen Debatte allgegenwärtigen Stasi, an denen SED- und Staatsfunktionäre, Richter, Staatsanwälte, Soldaten, Polizisten, Gefängniswärter, bis hin zu Trainern von minderjährigen Sporttalenten mitwirkten.
Schließlich hält diese Sammlung reichhaltiges Material bereit für die Analyse auf einer dritten Ebene - der übergreifenden Betrachtung von Aufarbeitungsdiskursen als Teil der postdiktatorischen Erinnerungspolitik. Daraus ergeben sich eine Fülle von Vergleichsperspektiven, zur NS-Aufarbeitung, zu den postkommunistischen Gesellschaften Osteuropas, aber auch mit Blick nach Lateinamerika oder Südafrika. Für die Frage, ob die Menschenrechte als Leitlinie internationaler und systemübergreifender Aufarbeitungspolitik tatsächlich ein historisches Novum darstellen, ob also die alten Prinzipien des "dicken Strichs", wie sie etwa in Polen nach 1989 galten, ein überholtes Konzept sind, findet man hier viel Anschauungsmaterial.
Alles in allem ist hier also ein Stück Rechtsgeschichte in gleichermaßen kompakter wie umfassender Form dokumentiert, das sich weder auf die pauschale Formel der "Siegerjustiz" noch auf ein totales Scheitern reduzieren lässt. Wer wissen möchte, warum es gleichermaßen gut und ärgerlich war, wie skrupulös die rechtsstaatliche Justiz sich des sperrigen Feldes annahm, findet hier reichhaltigen Stoff. Die Quellensammlung zeigt, dass die strafrechtliche Verfolgung in der DDR-Aufarbeitung durchaus eigene Akzente setzen konnte: Sie weitete den Blick über den Stasi-Komplex hinaus, sie rekonstruierte minutiös Tatgeschehen und Verantwortlichkeiten, und sie differenzierte in der Urteilsbildung über ausführende Befehlsempfänger und Entscheidungsträger an der Spitze des kommunistischen Regimes. Sehr zu begrüßen wäre es, wenn tatsächlich bald ein Online-Zugriff möglich wäre und (angesichts der als reine Bibliotheksauflage konzipierten Preisgestaltung) eine knappe Auswahl als erschwingliche Studienausgabe erscheinen könnte.
Jens Gieseke