Christine Göttler: Last Things. Art and the Religious Imagination in the Age of Reform (= Proteus. Studies in Early Modern Identity Formation; Vol. 2), Turnhout: Brepols 2010, XXXIII + 436 S., ISBN 978-2-503-52397-2, EUR 130,00
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Christine Göttler ist bekannt. Ihre wichtigen Arbeiten zu Bild und Frömmigkeit im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit (Die Kunst des Fegefeuers nach der Reformation [...], Mainz 1996; Ikonoklasmus als Kirchenreinigung [...], Zürich 1997; Art and Visual Culture in Seventeenth-Century Flanders, London 2001) spannen einen weiten Bogen. Das nun vorliegende Buch "Last Things. Art and the Religious Imagination in the Age of Reform" geht zurück auf ihre 2006 eingereichte Habilitationschrift an der Freien Universität Berlin. Es fand als zweiter Band Eingang in die Reihe "Protheus: Studies in early modern Identity Formation".
Mit ihrer thematischen Einführung "Last things and the vision of the imagination" leitet Christine Göttler die Praxis der persönlichen Meditation und Anschauung aus den "novissima or Last Things, the 'things' or events occurring at the end of one's life" (1) an der Schwelle zur Neuzeit aus der Tradition und bildlichen Überlieferung her. Dabei zieht sie Bilder heran, die "comment upon, refer to, and redefine ways of seeing, that guide the eyes of the beholder and challenge older models of vision, imagination, and sensory perception" (5).
Als erste Bildidee führt Christine Göttler mit einem Druck Bolswerts aus dem Buch Hermann Hugos Pia Desideria die Verwendung des "Reversed Telescope of the soul" an, durch die die personifizierte Seele den Tod und das letzte Gericht betrachtet (5-10) - ein Hilfsmittel, letzte ferne Dinge vorauszuschauen sowie umgekehrt vermeintlich nahe Dinge in die Ferne zu rücken. "At the threshold of death and the invisible world, the 'looking glass' or 'perspective glass' gives her [der Seele] a perspective on salvation and the ultimate things; it enables her to 'see very far, beyond imagination' [...]" (29).
Zunächst aber geht es um vorreformatorische "Indulgend Prints of Saint Gregory's Miraculous Mass" (Kap. 1, 31-96). Anhand der verschiedenen Bildtypen dieses Themas trägt die Autorin ebenso verschiedene Imaginations- und Verknüpfungssysteme bildlicher Jenseitsvorstellungen mit praktischen Formen der Wahrnehmung und der Frömmigkeit zusammen. Ein Ablassdruck ist ihrer Ansicht nach: "perhaps the most extreme example of an image whose efficacy is dependent on the pius performance of the beholder" (41). Wie wichtig diese visuellen Strategien ("for demonstrate truth, to induce belief about otherwise doubtful matters, in short, to give evidence of something that was in fact not evident at all..." (64-65)) sind, zeigt ihr Vergleich mit dem um 1500 weit verbreiteten rhetorischen Handbuch Evidentia als Verständnisgrundlage. Evidentia versteht unter den Begriffen demonstratio, illustratio, sub oculos subiectio "a technique that renders a past event actual, real, and as if present: the audience would collapse all historic distance, therefore shifting from past to present and becoming experientially engaged" (65) - ein Beleg für die "multiple ways in which audiences around 1500 understood, and were moved by, actual and imagined pictures" (67). Gerade auf diese Weise verstandene Bilder der St.-Gregors-Messe wurden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Zielscheibe für ikonoklastische Angriffe (69).
"Sites fort the Devout and Sites fort the Curious: Limbo, Purgatory, and Hell at Varallo" ist Kapitel 2 überschrieben (71-110). Es beginnt mit der Beschreibung des Wallfahrtsortes, seiner Kapellen und bildkünstlerischen Ausstattungen. Die bauliche Entwicklung und frühen Ausstattungen des 'Neuen Jerusalem' beschreibt sie aus der Überlieferung Carlo Borromeos und Francesco Sesallis ("Image-Worship as Physical Compassion" (75-84)).
Der für die Renovierung des zu der Zeit verwahrlosten Wallfahrtsortes beauftragte Galeazzo Alessi, hielt seine Beobachtungen und detaillierten Pläne in seinem Buch Libro dei misteri fest ("The Effects of the 'Concupiscientia Oculorum'" (84-90)). "Alessi's Libro dei misteri revisits and examines the possibilities of religious viewing, distinguishing between the 'devout' viewers of images of the life and Passion of Christ and the 'curious' desire to see images of things unseen" (90).
In den folgenden Abschnitten ("The Excluded Observer: Alessi's 'Vetriata'" (90-101) und "Eyes for the Curious" (101-110)) analysiert die Autorin Alessis Gestaltung der Kapellen sowie seine Pläne für die Kapelle des Jüngsten Gerichts, des Fegefeuers und der Hölle, die nicht realisiert wurden.
Das dritte Kapitel "Memory-Images of the Netherworld and their Subversion in the Age of Reform" (111-155) knüpft an die Beschreibungen des Sacro Monte at Varallo. Ihre architektonische Bildhaftigkeit sowie ihre Bilder selbst seien nach ihren Worten: "fuctioned as memory traces that helped pilgrims shape their own internal images through meditation practice and religious instruction" (113). Während im Abschnitt "Dolce and Romberch: Local Sources for Remembering Hell" (114-119) gezeigt wird, wie sich Zeitgenossen den Sitz der Vorstellung von Himmel und Hölle im menschlichen Hirn vorstellten, beschreiben die Bilder des Florentiner Dominikaners Cosimo Roselli (119-123) sehr genau, wie Paradies und Hölle ausgesehen haben. "Camillo's Flemish Mouth of Hell and the Pure Element of Fire" (123-128) als "memory theatre" (127) sowie "Curiosity and Competing Memory Images of the Last Things" (128-130) wie der sooft variierte Höllenschlund kommen immer wieder auf die Funktion der Höllenbilder zurück: Die Furcht beim Betrachten: "to turn men and woman from a sinful to a more devout Catholic life" (129).
"Hearts, Mirrors, and Wheels: Last Things in Late-Sixteenth-Century Northern Prints" (157-215) behandelt als 4. Kapitel Bilder von Hieronymus Bosch, Philips Galle, Hendrick Goltzius. Ausführlich kommen dabei die Stiche des Buches Cor Iesu amanti sacrum von Antoon Wierix zur Sprache: "Images Painted in The Heart" (178-192).
Mit dem Titel "Shaping the Soul: Giovanni Bernhardino Azzolino's Novissimi in Wax" Kap. 4, (217-272) macht Christine Göttler mit den hoch sensitiven Wachsbildern Azzolinos und ihrer Wirkung auf das Werk Berninis und Ribaltas bekannt.
Zwischen den beiden letzten Kapiteln "The Eye as Thief: Mental and Material Images in Meditation" (273-317) und "Jan Brueghel's Poetik Hells" (335-376) sind die wichtigsten Abbildungen in 25 Farbtafeln wiedergegeben - und schließlich "Fables of Saturn and Vulcan" (377-394) als Wirkung von Bildern von Verdammnis und Erlösung in der Malerei Brueghels und Rubens'. Dies markiert zugleich einen vorläufigen Haltepunkt in der Entwicklung von Bildern und bildlichen Vorstellungen von den letzten Dingen.
Last Things als Thema zwischen Bilderzeugung und Bildwahrnehmung ist neu. Das immense in diesem Buch verdichtete und oft wenig bekannte Material, ihre weit verzweigten Bezüge zu Funktion, Bedeutung und Wert für die religiöse Praxis vermitteln ein überwältigendes Bild von der Kunst und Vorstellungswelt zur Zeit der Reformation in Europa. Mehr noch: Es vernetzt auch Reflexionen über die letzten Dinge mit der eigenen Geschichte und Identität. Und wer dies Buch einmal besitzt, wird diesen Wert, weit über die klassische Kunstgeschichtsforschung hinaus, wohl schätzen.
Burkhard Kunkel