Klaus Kreiser: Istanbul. Ein historischer Stadtführer, 2., durchgesehene Auflage, München: C.H.Beck 2009, 320 S., ISBN 978-3-406-59063-4, EUR 24,90
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Seit längerer Zeit beschäftigt man sich in den Kultur-und Geisteswissenschaften mit Reiseliteratur. Glücklicherweise wird dieses sehr ergiebige Feld kultureller und historischer Analysen nun auch von einigen Islamwissenschaftlerinnen und Islamwissenschaftlern im deutschsprachigen Raum verfolgt. [1] Ein Thema von aktueller Brisanz, wie sich an dem vorliegendem Band, Klaus Kreisers ausgezeichnetem historischen Reiseführer über Istanbul, zeigen wird.
Als der Vater der osmanischen Studien, Joseph-Hammer Purgstall (1774-1856), 1822 sein zweibändiges Werk Constantinopel und der Bosporos, örtlich und geschichtlich beschrieben veröffentlichte, war dies zwar von höchster wissenschaftlicher Bedeutung - europäische Reisende interessierten sich für dieses Pionierwerk jedoch weniger, basierte es doch im Wesentlichen auf literarischen und historischen Quellen aus osmanischer Feder.
Von viel größerem Erfolg erwiesen sich hingegen die Ende des 19. Jahrhunderts erscheinenden Baedeker, die nun allein abendländische Besucher zitierten und deren bildungsbürgerliche Perspektive die Reiseliteratur bis in die Gegenwart bestimmen sollte. Und bis heute hat sich auf diesem Feld letztlich wenig getan. Denn zieht man die zahlreichen Reiseführer zur türkischen Metropole heran, kann man den Eindruck gewinnen, man befinde sich nach wie vor im fin de siècle: Gleich auf den ersten Seiten erfährt man, wo man nachts besser nicht hingehen sollte, dass es von Taschendieben nur so wimmelt, wo die meisten europäischen Bars und Hotels sind (Notrufnummern inklusive) und dass man überhaupt als europäischer Reisender sehr aufpassen müsse - der Reisende betritt ein Land also nicht nur physisch von außen, sondern wird auch textual auf den orientalischen Ausnahmezustand vorbereitet.
Es mag bedauerlich erscheinen, dass unser Büchermarkt begierig auf derlei ausgewogene 'Studien' wartet, die alles außer-Europäische in einen Topf werfen. Zieht man beispielsweise Richard Kaplans extrem erfolgreiches Pamphlet The Ends of the Earth: From Togo to Turkmenistan, from Iran to Cambodia, a Journey to the Frontiers of Anarchy heran [2], mag es einen kaum noch verwundern, dass es von New York Times Book Review sowohl hoch gelobt, als auch im Klappentext als "Travels through Hell" zusammengefasst wird. Da bleibt man doch lieber gleich zu Hause, wo es so schön sicher ist.
Umso erfreulicher ist die vorliegende Studie von Klaus Kreiser, die der Rezensent mit größtem Gewinn gelesen hat und unbedingt weiterempfiehlt. Kreiser gehört zu den führenden Osmanisten und Historikern Deutschlands. Sein Standardwerk über die Geschichte des Osmanischen Staates in der Reihe Oldenburg Grundriss zur Geschichte gehört zur Pflichtlektüre jeder Studentin /jedes Studenten der Islamwissenschaft und auch in seiner neuesten Untersuchung über Atatürk erfüllt Klaus Kreiser einmal mehr Grundlagenarbeit. [3]
Um bei der vorliegenden Studie den Leser in die Geschichte und Kultur der osmanischen Metropole einzuführen, zieht der Autor ein beeindruckendes Quellenspektrum heran. Neben den enzyklopädischen Werken eines Evliyā Çelebī (1611-nach 1685), eines Hüseyin Ayvānsarāyī (gestorben 1787) oder eines Osmān Nūrī Ergin (1883-1961) zitiert der Autor auch die Klassiker der osmanischen Poesie. Von dieser sogenannten Diwan-Dichtung sind vor allem Bākī (gestorben 1600), Nedīm (gestorben 1730) und Abdülbakī Gölpinarlı (1900-1982), der gelehrte Nachlassverwalter des Mevlevī-Ordens, zu nennen. Hinzu kommen die historiographischen Werke eines "brillianten Intellektuellen" des 16. Jahrhunderts namens Mustafā ālī (1541- ca.1600) [4] sowie die Beobachtungen des Rechtsgelehrten, Historikers, Staatsmannes und Philologen Ahmed Cevdet (1822-1895) über den sozialen und politischen Wandel der Tanzīmāt-Zeit (1839-1876). Dessen Tārīh-i Cevdet behandelt auf mehr als 4000 Seiten und auf eindrucksvolle Weise die Jahre 1774-1826. [5] Aber auch hauptberufliche Journalisten wie Mehmet Tevfīk (1843-1892) und Ahmed Rāsim (1865-1932) kommen zu Wort, um dem Leser das Volksleben zu spätosmanischer Zeit zu schildern. Hinzu kommen nicht-muslimische, armenische und orthodoxe Autoren, wie zum Beispiel Evangelinos Misailidis (1820-1890). Und aus dem Korpus der 'nicht-erzählenden' Quellen (also Urkunden und Registereinträge) werden immer wieder faszinierende Auszüge angebracht, die Einblicke ins pralle Menschenleben liefern.
Mit dieser Quellenauswahl zielt Klaus Kreiser darauf ab, "[...] den alten und neuen Freuden der Stadt Einblicke in die osmanische Kultur zu gewähren."(Vorwort) Dies will der Autor jedoch nicht nur durch das Zitieren der oben genannten Zeitzeugen erreichen. Vielmehr bringt er den Leser an Orte, deren Existenz sogar von Einheimischen bestritten wird. (Ebd.) "Ich habe mich bemüht, die meisten prominenten Punkte der Stadt zu berühren. Genauso wichtig war es mir jedoch, auf weniger bekannte Erscheinungen aufmerksam zu machen, wenn sie für ein Verständnis des osmanischen Alltags erforderlich sind." (Einleitung)
Und das schafft der Autor auf jeder Seite. Mit Kreisers Studie in der Tasche, erfährt man an einem Wochenende vor Ort mehr über die Geschichte und Kultur des Osmanischen Reiches, als einem so manche Seminarapparate jemals bieten werden.
Wir tauchen ein in die Geschichte und die Karriere des Scipione, Sohn eines Visconte de Cicale aus Messina, der als christlicher Gefangener nach der Seeschlacht von Dscherba (1560) als Sinān Pascha im Osmanischen Reich Karriere machen sollte (20f.). Wir verfolgen die Aufzeichnungen des āşıkpaşa-Zāde (gestorben nach 1484) zur Eroberung Konstantinopels (27f.) und erfahren mehr über Haft, Folter und Verbannung (256f.) in Istanbul, um daran anschließend in die Militärgeschichte der Stadt eingeführt zu werden, während wir mit einem der Bospurus-Dampfer und genügend Tee ausgestattet die Selimiye-Kaserne in Üsküdar passieren. Wir lesen, warum eine ehemals griechische Kirche den Namen 'Kein Sonnenstrahl fiel hinein' (güngörmez) erhält und sie bald darauf (1493) in die Schedelsche Weltchronik aufgenommen wurde (257).
Braucht man von alldem eine Pause, liefern uns Bākī und NeÇāti Bey (gestorben 1509) ihre Verse über den Wechsel der Jahreszeiten (22f.) und Ahmed Cevdet berichtet in seinem Gedicht "Sylberzypresse" über die Kahnpartien während des Mondscheins und die letzten Tage Mahmūds II. (1823-1895) (223f.). Wird es Abend, lässt man sich Richtung Galata treiben, wo man sich (historischer) Gesellschaft sicher sein kann. Hier beschäftigte sich Ahmed Rāsim akribisch genau, wie viel Raki ein Trinker (und sein Leser) genießen dürfe, "[...] ohne vom abendlichen Genießer (akşamcı) zum Gewohnheitstrinker (gündüzcü) zu werden." (265). Man beginnt mit der normalen Tagesmenge, die unter Raki-Freunden als "Nahrung" (gıda) bezeichnet wird, geht über zur "Gutgelauntheit" (neşe), dann zum "Beschwipstsein" (Çakırkeyfi) und schließlich zum "eigentlichen Rausch" (keyf) (265f.).
Klaus Kreiser präsentiert die Geschichte dieser faszinierenden Metropole auf einzigartige Weise. Die Karten sind allesamt ausgezeichnet, jedes der 22. Kapitel ist wie gemacht für die zahlreichen Pausen, die man bei einer Erkundung Istanbuls braucht. Man folgt dem Autor in Moscheen der Stadt und liest hier die Beschwerde eines Vorbeters gegen den Stellvertreter eines anderen Vorbeters (128f.), man betritt die Stätten der Bildung (231-248) und endet bei zwei ausgezeichneten Kapiteln zur Modernisierung, gesellschaftlichem Wandel und Kapitulation und Widerstand (283-295.).
Istanbul. Ein historischer Reiseführer ist vielmehr als eine ausgezeichnete Reiselektüre. Klaus Kreiser schafft es, facettenreich, auf unterhaltsame Weise und auf höchstem wissenschaftlichem Niveau, das Interesse des Lesers auf jeder Seite zu wecken und ihn dennoch nie unbefriedigt zu lassen. Das Buch ist somit auch für das Studium der Islam-, Kultur-und Geschichtswissenschaften unbedingt zu empfehlen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu z.B. Leyla v. Mendes Vorhaben am Berliner ZMO und das vom BMBF geförderte und von Bekim Agai geleitete Projekt "Europa von außen" am IOA, Abt. für Islamwissenschaft, in Bonn.
[2] Richard Kaplan: The Ends of the Earth: From Togo to Turkmenistan, from Iran to Cambodia, a Journey to the Frontiers of Anarchy, New York 1997.
[3] Vgl. Dorothee Guillemarre: Rezension von: Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: http://www.sehepunkte.de/2009/03/14621.html.
[4] Zit. nach Klaus Kreiser: Der Osmanische Staat 1300-1922, München 2008, 100.
[5] Ebd., 102.
Tilmann Kulke