Bogdan Musial: Stalins Beutezug. Die Plünderung Deutschlands und der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht, Berlin / München: Propyläen 2010, 507 S., ISBN 978-3-549-07370-4, EUR 26,95
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Bogdan Musial hat sich unter Zeithistorikern einen Ruf durch seine vielbeachteten Forschungen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges, insbesondere zur Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges, zur Besatzungspolitik in Polen sowie zur Partisanenbewegung erworben. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er durch seine Kritik an den handwerklichen Fehlern der Wehrmachtsausstellung des Reemtsma-Instituts bekannt. In seinem neuesten Buch versucht er sich neben zeithistorischen auch an wirtschaftshistorischen Fragestellungen.
Anders als es der Buchtitel suggeriert, befasst sich der Autor mit der Beutepolitik Stalins nur im letzten von insgesamt vier Kapiteln. In den ersten drei Kapiteln werden die kriegswirtschaftlichen Aspekte des "Teufelspaktes" zwischen Hitler und Stalin vom August 1939, die Mobilisierung der sowjetischen Kriegswirtschaft und Gesellschaft sowie Stalins Deutschlandpolitik nach dem 22. Juni 1941 behandelt.
Musial vertritt die These, dass Stalin durch erhöhte Lieferungen strategischer Rohstoffe Hitler zum Losschlagen im Westen ermuntern wollte. Des Weiteren wirft er die Frage auf, welchen Stellenwert die deutschen Exporte, insbesondere Werkzeugmaschinen, während der Weltwirtschaftskrise (1929-1933) für die sowjetische Aufrüstung hatten. Er breitet dazu, wie auch in den folgenden Kapiteln, eine Fülle von Dokumentenauszügen und Zahlen aus. Auch der gutmeinende Leser verliert dabei bisweilen den Überblick, da das statistische Material meist nur aneinander gereiht wird, (ohne es systematisch aufzubereiten) und nicht immer mit dem Text korrespondiert. Dass sich die deutschen Exporteure und Regierungsstellen nicht über die Bedeutung der Lieferungen für die sowjetische Aufrüstung bewusst gewesen wären, wie Musial vermutet (45), ist zu bezweifeln. Es gab sehr wohl kritische Stimmen, die vor dem Ausbau der sowjetischen Rüstungsindustrie mit Hilfe deutscher Werkzeugmaschinen warnten. [1] Ihre Mahnungen verhallten jedoch angesichts der kritischen Lage, in der sich viele Maschinenbauunternehmen befanden.
Mit den grundlegenden angelsächsischen Forschungen [2] zum Ausbau der sowjetischen Rüstungswirtschaft in den 1930er Jahren wie auch mit den Studien des russischen Militärhistorikers Wladimir Sacharow [3] setzt sich Musial leider nicht auseinander.
Aufschlussreich sind Musials Darstellungen der erfolgreichen Verlagerung von Industriebetrieben nach Osten und des sowjetischen "Panzerwunders". Die entscheidende Frage nach den technologischen Impulsen bleibt jedoch offen. Überzeugender argumentieren zu diesem Aspekt Mark Harrison und Richard Overy. [4] Für beide besteht das Erfolgsgeheimnis der sowjetischen Kriegswirtschaft in einer extrem effizienten Nutzung ihrer begrenzten Ressourcen und im konsequenten Setzen auf die Massenproduktion. Während des Krieges wurden nur einzelne neue Flugzeug- und Panzermodelle eingeführt, und diese nur an wenigen Standorten in riesigen Dimensionen gebaut.
Die Mobilisierung der sowjetischen Gesellschaft für den Krieg wird von Musial vor allem mit massenhaften Repressionen begründet. Er geht noch weiter und interpretiert den Massenterror der 1930er Jahre als eine Voraussetzung des Sieges. Die von ihm ausgewerteten Akten lassen das immense Ausmaß des Terrors gegen die eigene Bevölkerung und Armee, die wie keine andere unter Fahnenflucht litt, eindringlich hervortreten. Über 400.000 Soldaten und Offiziere wurden in Strafkompanien gesteckt, fast eine Million von Kriegstribunalen verurteilt und die Angehörigen von abtrünnigen Offizieren in Sippenhaft genommen. Man spürt es beim Lesen jeder Zeile, es ist dem Autor ein wichtiges Anliegen, den in Russland teilweise bis heute gepflegten Mythos vom "Großen Vaterländischen Krieg" gründlich zu demontieren.
Im abschließenden und umfangreichsten Kapitel behandelt Musial die sowjetische Demontagepolitik. Ausgiebig werden bisher nicht zugängliche Demontagebeschlüsse zitiert, der Aufbau und die Strukturen der Beuteorgane der Roten Armee dargestellt und Statistiken über abtransportierte Güter präsentiert. Während die Demontagen in der SBZ und Österreich inzwischen als gut untersucht gelten können, war das Wissen über die Demontageverluste in Schlesien und den übrigen ehemaligen deutschen Ostgebieten bisher lückenhaft. Es ist der Verdienst des Autors, dazu neue Erkenntnisse gewonnen zu haben. Insgesamt entsteht das Bild von einem "in der Weltgeschichte einmaligen Demontageprogramm" (256) und von deindustrialisierten Regionen.
Die groß angelegten Demontageaktionen und ihre negativen Folgen sind ein unbestreitbares Faktum. Sie sollten jedoch nicht überzeichnet werden und zu der Behauptung führen, die DDR sei bis zu ihrem Zusammenbruch von der Sowjetunion ausgeplündert worden (311). Nüchtern betrachtet profitierte die DDR spätestens seit den 1960er Jahren von den Terms of Trade im deutsch-sowjetischen Handel. Sie konnte "weiche Waren" (nicht weltmarktfähige Industrieerzeugnisse) gegen "harte Waren" (weltmarktfähige Rohstoffe) eintauschen. [5]
Das Grundproblem der Darstellung im letzten Kapitel besteht darin, dass Musial die Trophäen- und Demontageaktionen nicht ausreichend in den Gesamtkontext der sowjetischen Reparationspolitik stellt. Schlichtweg falsch ist seine Behauptung, dass auf der Konferenz von Jalta die sowjetische Forderung, im Rahmen der Reparationen mindestens 10 Milliarden Dollar zu erhalten, von den Westalliierten bestätigt worden sei (257). Im Gegenteil, weder auf der Konferenz von Jalta noch auf der Konferenz von Potsdam gelang es, eine feste Reparationssumme zu fixieren. Stattdessen sollte jede Siegermacht ihre Reparationsforderungen im Wesentlichen aus ihrer eigenen Besatzungszone befriedigen. Mit dieser Regelung wurde Deutschland de facto reparationspolitisch geteilt.
Auch wird die Mitte 1946 erfolgte Wende in der Reparationspolitik, die zu einer Beendigung der einmaligen Entnahmen und zur Gründung sowjetischer Aktiengesellschaften (SAG) in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) führte, von Musial gänzlich ausgeklammert. Dabei war es dieser Politikwechsel, der überhaupt erst zum Erhalt "industrieller Kerne" in der SBZ beitrug und einen Wiederaufbau ermöglichte.
Immer wieder stößt man auf ungelöste methodische Probleme. Wie sind beispielsweise die Effekte der Demontagen von Hydrierwerken zur Herstellung von Benzin aus Kohle zu bewerten? Die immens aufwendige Hydriertechnik konnte überhaupt nur unter den Sonderbedingungen des Krieges entstehen. In der Nachkriegszeit verlor sie rasch ihren Wert, da die Benzinherstellung aus Kohle gegenüber dem billigen Erdöl nicht konkurrenzfähig war. So protestierten die Betreiber zwar gegen die teilweise Demontage von Hydrierwerken in den Westzonen, erkannten aber bald, dass deren Weiterbetrieb betriebswirtschaftlich nicht zu vertreten war. Auch die Sowjetunion als rohstoffreiches Land brauchte solche Anlagen eigentlich nicht. Zudem erwiesen sich die Demontage und der anschließende Wiederaufbau derartiger Werke als so kompliziert, dass dies nicht in einem einzigen Fall gelang.
Das größte methodische Problem bei der Untersuchung der volkswirtschaftlichen Effekte der Reparationen besteht in der Bewertung der jeweiligen Leistungen (demontierte Maschinen, Auslandsvermögen, Entnahmen aus der laufenden Produktion, Patente, Arbeitsleistungen usw.). Während die Gläubiger danach trachten, die Leistungen der Schuldner möglichst niedrig anzusetzen, versuchten diese ihrerseits möglichst hohe Gutschriften für ihre Leistungen zu erhalten. Dies war nicht nur ein Problem der sowjetischen Reparationsrechnung, sondern traf auch auf das Handeln der Westalliierten zu.
Am Schluss des Buches wird das sowjetische "Wiederaufbauwunder" thematisiert. Es liegt in der eindimensionalen Logik seiner gesamten Argumentation, dass Musial den Wiederaufbau der sowjetischen Wirtschaft vor allem den Demontagegütern und der Ausbeutung der Ostblockländer zuschreibt. Es wäre eine spannende Aufgabe für künftige Forschungen, die Effekte des Transfers von Demontagegütern für den sowjetischen Wiederaufbau zu quantifizieren.
Insgesamt hinterlässt die Lektüre einen zwiespältigen Eindruck. Musial hat eine Reihe von wichtigen Fragen aufgeworfen. Nicht immer gelingt es ihm, diese auch überzeugend zu beantworten. Trotz aller Materialfülle und neu erschlossener Quellen fehlt dem Buch die Systematik. Zudem hätte ein gründliches Lektorat dem Text gut getan.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B.: Ralf Richter: Wanderer-Werkzeugmaschinen im internationalen Wettbewerb, in: 120 Jahre Wanderer 1885-2005, hgg. von Jörg Feldkamp / Achim Dresler, Zwickau 2005, 56-63.
[2] Vgl. Robert William Davies / Mark Harrison (eds.): The Economic Transformation of the Soviet Union 1913-1945, Cambridge 1994; Mark Harrison / Robert William Davies: The Soviet Military-Economic Effort under the Second Five-Year Plan (1933-1937), in: Europe-Asia Studies 49:3 (1997), 369-406.
[3] Vgl. Wladimir Sacharow: Woennye aspekty wsaimootnoschenij SSSR i Germanii w 1921-1941 gg. Monografija, Moskau 1992, (Die militärischen Aspekte in den Beziehungen zwischen der UdSSR und Deutschland: 1921-Juni 1941); Politika Sowjetskogo gosudarstwa po otnoscheniju k Germanii w woennoj oblasti i eje wlijanie na oboronosposobnost SSSR (1921-ijun 1941 gg.), Moskau 1993. (Die Politik des Sowjetstaates gegenüber Deutschland auf dem militärischen Gebiet und ihr Einfluss auf die Verteidigungskraft der UdSSR 1921-Juni 1941).
[4] Vgl. John Barber / Mark Harrison (eds.): The Soviet Defence Industry Complex from Stalin to Khrushchev, London 2000; Richard Overy: Russlands Krieg 1941-1945, Reinbek 2003.
[5] Vgl. Christoph Buchheim: Wirtschaftliche Folgen der Integration der DDR in den RGW, in: Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ/DDR, hg. von Christoph Buchheim, Baden-Baden 1995, 341-362; Ralf Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe? Die DDR im RGW - Strukturen und handelspolitische Strategien 1963-1976, Köln 2000.
Rainer Karlsch