Ulrich Pfisterer: Lysippus und seine Freunde. Liebesgaben und Gedächtnis im Rom der Renaissance oder: Das erste Jahrhundert der Medaille, Berlin: Akademie Verlag 2008, 490 S., ISBN 978-3-05-004314-2, EUR 79,80
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Nein, vor dem "Gähnen", dem kunsthistorische Studien zu Numismatica über lange Zeit ausgesetzt waren (75), brauchen die Leser dieses Buches keine Angst zu haben. Und dies nicht nur, weil sich die Forschung zur Renaissance-Medaille seit längerem schon den Staub einer rein kennerschaftlichen Philologie abgeschüttelt hat. [1] Ulrich Pfisterer gelingt es vielmehr, die minutiös rekonstruierte Früh- und Vorgeschichte der frühneuzeitlichen Medaille im Rom der Renaissance mit Fragen zu verknüpfen, die weit über den Gegenstand selbst hinausreichen und die konstitutive Funktion von Geschenken in einer auf Beziehungen der "amicitia" basierenden Gesellschaft betreffen. "Es gilt zu zeigen, dass in der Vorstellung dieser Zeit jegliche Form menschlicher Kreativität [...] 'Liebe' und 'Freundschaft' als conditio sine qua non voraussetzen [...]. Entsprechend gewinnen Geist und Gelehrsamkeit erfordernde Bilder und Kunstobjekte überhaupt erst als Liebes- und Freundschaftsgaben ihre volle Bedeutung" (10). Wobei im Bereich der humanistischen Kultur, die den Nährboden der Medaillenproduktion, ein bestimmter Typus der gleichgeschlechtlichen Männer-Freundschaft den Ton angibt, der zwischen Homophilie und Homoerotik oszilliert (258ff.).
Bereits der Titel deutet an, dass sich hinter den leinengebundenen Buchdeckeln ein Text verbirgt, der die Auseinandersetzung mit dem "ersten Jahrhundert der Medaille" von sehr unterschiedlichen Perspektiven angeht. Einige Kapitel des Buches lassen sich als ebenso brillant recherchierte wie spannungsvoll komponierte Detektivgeschichten lesen, die die Hintergründe eines einzelnen "Fundstücks" ermitteln: der ausnehmend qualitätvollen, die jungenhafte Physiognomie des Dargestellten prägnant herausarbeitenden Gedenkmedaille, die "Hermes Flavius" dem früh verstorbenen Alessandro Cinuzzi "konsekrierte" (so der Wortlaut der Inschrift). Sorgfältig klärt Pfisterer die biografischen Hintergründe sowohl des Adressaten wie des Autors und bringt so Licht in das Dunkel, das die Dedizierung dieser außergewöhnlichen Schaumünze bislang umgab.
Schnell zeigt sich dabei, dass die ausgefeilte Machart all'antica in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zur geringen Prominenz des Dargestellten steht. Weil das Geschenk an den jugendlichen Kleinadligen Cinuzzi gerade nicht als "Scheidemünze des Ruhms" fungieren konnte, von deren Anfertigung der Auftraggeber sich die Gewährung persönlicher Vorteile durch den Empfänger erhoffen durfte, repräsentiert es sozusagen in Reinform die Funktion einer posthumen Freundschafts- oder Liebesgabe. Im Fall Cinuzzi war der Schenker gleichzeitig auch der Schöpfer der Medaille selbst: der nur in diesem einen Fall unter seinem Geburtsnamen auftretende Hermes Flavius, dessen Tätigkeit Pfisterer überzeugend mit dem auf mehreren Medaillen dokumentierten "Lysippus" zusammenbringt. Mit der Anspielung auf den ersten Lysipp und seine Rolle als Hofporträtist Alexanders des Großen sollte dieses Pseudonym die Erinnerung an den toten Geliebten des Medailleurs wach halten: den "toskanischen Alexander" aus dem Hause Cinuzzi. [3]
Ebenso erstaunlich wie die Qualität der Medaille selbst ist das Zusammentreffen einer zweiten posthumen Gabe an Cinuzzi, die Drucklegung einer Sammlung von Epigrammata, deren Autoren dem humanistischen Kreis der Römischen Akademie des Pomponius Laetus angehören (der Text der Gedichtsammlung ist im Anhang vollständig abgedruckt). Die intermediale Verschränkung von Medaille und Gedicht-Sammlung - die sich in diesem Fall einer Entscheidung für zwei neue, und wie Pfisterer ausführt, "auf der technischen und Objekt-Ebene" in "enge[r] Parallele" (77) stehende Medien verdankt, wird in verschiedenen Kapiteln des Buches für eine dichte Analyse des Milieus fruchtbar gemacht, das zum Entstehen der frühneuzeitlichen Medaillenkunst beitrug. Die Medaille erweist sich dabei als Medium, das überhaupt erst unter den Bedingungen einer gruppenspezifischen Kenntnis literarischer Allusionsfiguren entstehen und funktionieren konnte. Ja, ihr sprichwörtlich doppelseitiges Dispositiv mit der Möglichkeit einer Differenzierung von Avers und Revers war dort produktiv, wo der Revers die Darstellung der "äußeren" Person durch "eine ergänzende Aussage zu Denken und Charakter" (78) ergänzte und im Zusammenwirken von Bild und Text bewusst enigmatische "Denkbilder" hervorbrachte.
In diese vom Fallbeispiel Cinuzzi/Lysippus angeregten mediengeschichtlichen Überlegungen sind immer wieder längere, kompendienartige Rückblicke zur historischen Tiefendimension jener Topoi eingeschaltet, die zusammengenommen den Sinnhorizont des neuzeitlichen Medaillenwesens abstecken sollen. Die besten Passagen dieser Art bieten eine ebenso souverän vorgetragene wie hochgradig erhellende Zusammenschau der unterschiedlichsten Diskursfelder - stellvertretend sei der Abschnitt über Liebesbilder / Freundschaftsbilder / Spiegelbilder genannt, der Dichtung, Kunstproduktion, Frömmigkeitspraxis und materielle Kultur sehr feinsinnig miteinander verspinnt und überzeugend mit der Medaillenkultur der römischen Renaissance zu verknüpfen weiß. Weniger eng gelingt dieser Anschluss im Abriss zur Geschichte der Medaillenkunde, der das Sammeln und Erforschen von Münzen und Medaillen von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert nachzeichnet. Denn die faszinierenden und hochaktuellen Überlegungen zu Sammlungs- und Wissenschaftsgeschichte der Medaillen, die Pfisterer hier anzubieten hat - zugespitzt in der provozierenden These, "die Kunstgeschichte [...] müsste eigentlich neben der Vitengeschichtsschreibung eines Giorgio Vasari die zeitgleiche Numismatik als ihren zweiten historischen Ursprungsort ansehen" (167) - führen am Ende doch eher auf thematische Nebengeleise, die wenig beitragen zur übergeordneten Fragestellung des Bands.
Pfisterers Studie hat freilich mehr zu bieten als die Präsentation einer Fallstudie und einen wissenschaftsgeschichtlichen Abriss der Medaillen- und Münzenkunde. Ein dritter Strang der Argumentation, und darin dürfte methodisch der stärkste Impuls von "Lysippus und seine Freunde" liegen, fügt sich aus Überlegungen zur Rolle von Kunstwerken als Freundschafts- und Liebesgaben in der Kultur der italienischen Renaissance. Nur sehr zögerlich und vereinzelt haben Kunstgeschichte und Bildwissenschaft an der kulturwissenschaftlichen Konjunktur der Gabentheorie im Anschluss an den klassischen Entwurf von Mauss oder die jüngeren Positionen von Godelier und Derrida partizipiert, und dies trotz einer langen Diskussion über die Rolle von Stiftungen (bzw. Donationen) innerhalb der Sakralkunst. Wie das Prinzip Gabe gerade für die Schöpfung profaner Bild-Objekte zum entscheidenden Movens werden konnte, kann Pfisterer in den abschließenden Abschnitten zu den Gaben der Liebe und zu den im Epilog behandelten Gaben Michelangelos andeuten. Es zeigt sich dabei, wie die Offerte künstlerischer Gaben fest integriert ist in ein komplexes System von Wechselkursen differenter "Währungen" (zu denen literarische Geschenke ebenso zählen können wie "abgeschnittene Haarlocken"), der gabentheoretische Ansatz mithin den Blick öffnet für die Verflechtung von Kunst sowohl mit der materiellen Kultur wie mit anderen Produkten der Hochkultur.
Die Funktionsweise der Medaillen wird von Pfisterer aus der Innenperspektive jener "Zirkel" erläutert, in denen Schöpfer und Adressaten verbunden waren. Das mag angesichts der Hermetik der verwendeten Codes gerechtfertigt erscheinen, die den Gabentausch erst zum Vehikel des inneren Zusammenhalts der Gruppe machten. Man kann sich im Anschluss an die Lektüre dieser an neuen Einsichten so reichen Studie aber auch fragen, wie sich das Verhältnis dieser Gruppe zu anderen Segmenten der Gesellschaft ausnahm und wo die Schnittstelle lag zwischen symbolisch fundierter Gaben-Kultur und einer harten Realität monetärer Tauschbeziehungen, in die sich nicht zuletzt auch alle Formen von "Kunst gegen Bezahlung" einordnen. Taugt die Medaille wirklich als kulturelle Leitwährung der Renaissance bzw. wo musste sie doch ihrer Schwester, der Münze, den Vortritt lassen? Wenn die Kultur der Renaissance, wie es diese Studie lehrt, Medaille und Münze nicht klar voneinander abgrenzte, dann dürfte zukünftig gerade der Übergang zwischen beiden Zahlungsmitteln neue Erkenntnisse über die Kunstproduktion der Zeit abwerfen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. vor allem die von Stephen K. Scher editierten Bände The Currency of Fame. Portrait Medals of the Renaissance, New York 1994 und Perspectives on the Renaissance Medal, New York 2000 sowie Georg Satzinger (Hg.): Die Renaissance-Medaille in Italien und Deutschland, Münster 2004.
[2] Parallel zu Pfisterers Monografie erschien Markus Wesche: Lysippos unveiled. A Renaissance Medallist in Rome and his Humanist Friends, in: The Medal 52 (2008), 4-13, eine Studie, die hinsichtlich der Identifizierung "Lysipps" und seiner Lokalisierung in den römischen Humanistenkreisen der Frührenaissance zu den gleichen Schlüssen gelangt.
David Ganz