Rezension über:

Stefanie Diekmann / Winfried Gerling (Hgg.): Freeze Frames. Zum Verhältnis von Fotografie und Film, Bielefeld: transcript 2010, 229 S., ISBN 978-3-8376-1363-6, EUR 26,80
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Karen Beckman / Jean Ma (Hgg.): Still moving. Between Cinema and Photography, Durham / London: Duke University Press 2008, vi + 312 S., ISBN 978-0-822341-55-0, USD 24,95
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Rezension von:
Nina Lindemeyer
Universität Basel
Redaktionelle Betreuung:
Barbara U. Schmidt
Empfohlene Zitierweise:
Nina Lindemeyer: Grenz- und Übergänge zwischen Film und Fotografie (Rezension), in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 1 [15.01.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/01/19145.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Grenz- und Übergänge zwischen Film und Fotografie

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Die Digitalisierung der bewegten und unbewegten Bildwelten treibt seit einigen Jahren vielfältige theoretische Blüten. Fast scheint es, als müssten vor dem Ablauf einer Frist noch schnell die Verhältnisse um die "alten" Medien geklärt werden. Den bestehenden Theorien der Intermedialität und Beobachtungen von Konvergenzen medialer Praktiken in technischen Dispositiven und in der Kunst stellten unlängst zwei Sammelbände Analysen des Verhältnisses von Fotografie und Film zu Seite. Sie bieten dabei nicht nur fundierte Untersuchungen einzelner Motive und problematisieren die interdisziplinäre Forschung, sondern offenbaren auch die unterschiedliche Herangehensweise an bildliche Phänomene und die Wechselverhältnisse der beiden Medien im deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum.

Der schmale Sammelband von Stefanie Diekmann und Winfried Gerling geht auf eine Tagung zu "Fotografie und Fotografen im Spielfilm" zurück, womit der Fokus bereits anklingt: Auf einer vornehmlich an prägnanten Einzelbeispielen orientierten Ebene dient die "Konzeptionalisierung der Fotografie im Kino" (7) dazu, über das Verhältnis der beiden Medien zueinander nachzudenken. Ausgehend vom Freeze Frame, dem im Film erscheinenden Standbild "als einer hybriden, intermedialen Struktur par excellence" (ebd.), werden motivische Interaktionen und Abgrenzungen der Medien mit strukturellen und methodologischen Fragen kontrastiert. Plausibel ist der Ansatz, die mit den jeweiligen Medien "verbundenen Zeit- und Darstellungsökonomien zu diskutieren" (ebd.).

Das Buch ist in drei Sektionen geteilt: zunächst wird in vier Aufsätzen die Verwendung fotografischer Bilder im Film am Beispiel von Ridley Scotts Blade Runner (Bernd Stiegler), dem Doppelgängermotiv bei Krzysztof Kieslowski (Alexander Streitberger), in Zeitreisen (Kay Kirchmann, Nicole Wiedenmann) und im Abu Grahib Dokumentarfilm von Erol Morris (Stefanie Diekmann) analysiert. Stieglers Text steht dabei paradigmatisch zu Beginn, weil hier am Beispiel eines Klassikers des Science Fiction Films der in allen besprochenen Filmen thematisierte Evidenzcharakter der Fotografie und zugleich das Thema der Bildmanipulation untersucht werden. Stiegler charakterisiert in einer Parallelisierung von Roland Barthes' Die helle Kammer und Blade Runner die 1980er-Jahre als "historische Schwellensituation" (14), in der der Umbruch von analoger zu digitaler Fotografie einerseits einen Rückblick auf die magischen Qualitäten der analogen Fotografie, andererseits eine Vorstellung simulierter Realität hervorruft. Er beschreibt präzise die eigentümliche Ambivalenz zwischen Evidenz und Konstruktion, die der Fotografie im Verlauf der Erzählung von Blade Runner zugesprochen wird und die schlussendlich modellhaft als "posthistorische Vision einer generalisierten Simulation" (24) die Frage nach dem Realitätsgehalt der Fotografie überflüssig werden lässt.

Im zweiten Teil stehen intermediale "Spielarten der Annäherung und Anähnelung" (8) im Mittelpunkt. Stefan Koppelkamm stellt einem Einblick in sein Fotoprojekt Screens einen kurzen Essay zum voyeuristischen Blick zur Seite und Kathrin Peters widmet sich der Annäherung von Fotografie und Film im Hinblick auf ihre Zeitlichkeit im Werk der amerikanischen Künstlerin Sharon Lockhart. Stephan Günzel richtet sein Augenmerk auf digitale Bilder und argumentiert, dass die Spezifik analoger oder digitaler Bildlichkeit erst im Gebrauch anschaulich wird. Er entkräftet jeden Versuch einer Medienontologie der Fotografie, die sich auf Technologie, auf Indexikalität oder Ikonizität gründet. Der Unterschied liege vielmehr in der möglichen unmittelbaren Manipulation der digitalen Bilderscheinung, welche er der "Reflexion als Geste des analogen Fotografierens" (128) gegenüberstellt.

Abschließend wird die schwierige Korrelation zwischen der medialen und der phänomenologischen Ebene in vier Beiträgen diskutiert, die das Verhältnis der Dichotomie Stillstand/Bewegung zur Konstellation Fotografie/Film untersuchen. Christine Hanke befragt überzeugend Michael Hankes Film Caché nach dem Status des Bildes, wenn sich darin Filmbild und Videobild in der Negation ihrer Sichtbarkeit angleichen, Winfried Gerling analysiert die räumliche und zeitliche Multiperspektivität des so genannten Bullett Time Effects vor dem Hintergrund seiner kunsthistorischen Vorläufer und Michaela Ott führt ein spannendes Gespräch mit Angela Melitopoulos über ihre Arbeit mit Freeze Frames als "Arbeit am Zeitmaterial" (192). Lorenz Engell widmet sich schließlich der Unterscheidung zwischen dem Freeze Frame als angehaltenem Filmbild und als in den Film eingefügte Fotografie. Er arbeitet dabei die grundsätzlich verschiedenen Zeitkonzepte der beiden Medien als "augenblickskritisch" (Fotografie) und "dauerkritisch" (Film) beziehungsweise als abgeschlossen und offen heraus. Auf der Grundlage der Skizzierung des Freeze Frames als "hochreflexives Moment" (9) bietet er eine lesenswerte Analyse des Films Barton Fink. Dessen Struktur offenbart sich als "temporales Möbiusband", worin die Fotografie im "Zusammenspiel mit dem bewegten Bild" paradoxerweise als zeitlicher "Vorausblick" (184) erscheinen kann.

Ein kluges Schlusswort setzt Hubertus von Amelunxen, wenn er im Epilog der fotografischen Praxis Stanley Kubricks nachgeht und die Fotografien als "eigenständige Schauplätze einer komplexen Blickregie und Blickführung" (204) untersucht. Er betont, dass "für die subjektive Zeit der Betrachtung" beide Medien "den Eindruck einer Dauer" (208) bedeuten und hier gerade nicht die Frage nach Stillstand und Bewegung von Relevanz sei.

Die Herausgeberinnen von Still Moving. Between Cinema and Photography wählen einen ähnlichen Zugang, wenn sie versuchen, der Vielfalt der Berührungspunkte von Film und Fotografie gerecht zu werden, indem sie gezielt Vertreter unterschiedlicher Disziplinen miteinander ins Gespräch bringen. Ziel ist, "to make a specific critical intervention into a number of fields and practices at a moment when our objects and the methodologies with which we engage them strike us as simultaneously petrified and elusive or confused" (2). Die diagnostizierte theoretische und methodologische Verwirrung wollen sie in ihrer Komplexität produktiv machen. Wichtig ist ihnen dabei eine Verortung der Kunstgeschichte in diesem Diskurs. Konvergenzen und gemeinsame Interessen mit den Film Studies sollten daher in einen stärkeren Austausch über das interdisziplinäre Thema der Medienspezifik münden. Mit dem Buch sollen Untersuchungen über Differenzen zwischen den beiden Herangehensweisen an Film und Fotografie und ihre entsprechenden und implizierten Identitäten als Medien provoziert werden, um Fragen zu entwickeln, die neue Arten des wissenschaftlichen Austausches ermöglichen. (3)

Die Frage nach dem Medium - und nicht nach Darstellung, Bildlichkeit oder Wahrnehmung - wird hier expliziter gestellt als in Freeze Frames. Beckman und Ma wollen sie im Anschluss an die Diskussionen um Medienspezifik von Lessing bis Krauss weiterführen und mit einer kritischen Diskussion des "'still-moving'-paradigm" verbinden: "Still Moving argues for the impossibility of watching the movement without simultaneously watching the stasis and the media that produces theses effects, and suggest instead that the hesitation between stasis and motion actually produces an interval in which rigorous thinking can emerge" (5).

Still Moving ist ebenfalls in drei Themenbereiche mit jeweiliger Schwerpunktsetzung aufgeteilt. Zunächst geht es unter dem Titel "Beyond Referentiality" um eine Abkehr von der redundanten Debatte um den Zusammenhang von Indexikalität und visueller Referenz in beiden Medien. Ausgehend von aktuellen Diskussionen über digitale Fotografie verfolgt Tom Gunning einen dezidiert phänomenologischen Zugang und plädiert für die Abgrenzung vom semiotischen Diskurs, wie er u.a. von Charles Sanders Peirce vertreten wurde. Er empfiehlt im Gegenteil die Interpretation der kanonischen Texte von Roland Barthes und André Bazin im Sinne einer Ontologie des fotografischen Bildes: "Barthes shares Bazin's belief that a photograph puts us in the presence of something, that it possesses an ontology rather than a semiotics" (35). Gunning unterstreicht die visuelle Komplexität der Fotografie mit ihrer Verflechtung von Indexikalität und Ikonizität und ihrer speziellen Verbindung zur Zeitlichkeit - die Unterschiede zwischen digitaler und analoger Fotografie seien jedoch nur relativ. Abseits der Thematisierung visueller Referentialität können dann auch üblicherweise marginalisierte Aspekte gewinnbringend diskutiert werden, wie etwa die Rolle des Tons im strukturellen Film, die Juan A. Suarez in seinem Beitrag beschreibt. Timothy Corrigan untersucht die Entwicklung des für die Fotografie- und Filmgeschichte gleichermaßen wichtigen Essayfilms aus dem Erbe der literarischen Essayform beziehungsweise dem Foto-Essay zwischen 1940 und 1958, insbesondere bei Chris Marker.

Im zweiten Teil sind Beiträge versammelt, die den Einsatz bestimmter Medien im Hinblick auf die Topoi "Nation, Memory, History" beleuchten. Die Autorinnen widmen sich der Frage, wie mediale Praktiken eine Idee von Nationalität befördern und welche Konzeptionen von Gedächtnis und Geschichte dabei im Spiel sind. Atom Egoyan macht dies in einem kurzen Kommentar zu seinem Film Calendar, Jean Ma am Beispiel der Thematisierung von Fotografie im taiwanesischen Film A City of Sadness. Rita Gonzalez untersucht den motivischen Einsatz von Fotografie im sogenannten Chicano Film, dem Genre der mexikanischen Einwanderer in den USA. Karen Beckman fragt, "how the idea of the nation inflects González Iñárritu's exploration of the medium of film and its capacity to reflect the complexity of temporality, movement, history, and the contemporary traffic of images at the level of both form and content" (135). In einem Close Reading seines Films Amores Perros zeigt sie dies überzeugend am Beispiel der kinesis der Bilder mobiler, horizontaler, männlicher Geschwindigkeit, die immer wieder von weiblich konnotierter, vertikaler stasis unterbrochen wird. Die Autorin parallelisiert so medienspezifische Aspekte von Kino und Fotografie mit Gender- und Kulturfragen innerhalb der zeitgenössischen mexikanischen Gesellschaft. Schließlich wird die Videokünstlerin Rebecca Baron hinsichtlich der Bedeutung von Fotografien für ihr filmisches Werk interviewt.

Die im dritten Teil - "Working between Media" - versammelten Beiträge diskutieren genau die Bereiche fotografischer und filmischer Bildlichkeit, bei denen Grenzziehungen wertlos werden, weil man sich, wie George Baker es ausdrückt, im "hiccup of indecision, whether fusion or disruption" (177) aufhält. In enger Anlehnung an Rosalind Krauss' poststrukturalistische Schriften zur Fotografie und Skulptur der 1980er-Jahre versucht Baker in seinem Beitrag, die sich in einer Krise befindlichen Fotografie in ihrem "erweiterten Feld" zwischen Erzählung, Bewegung und Stasis neu zu verorten. Im Weiteren kommentiert Nancy Davenport ihr Projekt Weekend Campus (2004), Louis Kaplan präsentiert das multimediale Werk von Wallace Berman und Zoe Beloff diskutiert den Übergang der Repräsentation psychiatrisch Kranker von der Fotografie im 19. Jahrhundert zum frühen Film. Schließlich ist noch Raymond Bellours Text über "The Photographic" herauszuheben, in dem er, ebenfalls vom Freeze Frame und Essayfilm ausgehend, die gegenwärtige "aesthetic of confusion" (261) jeglicher Idee von Medienspezifik und Authentizität vorzieht. Es seien in den Positionen zeitgenössischer Kunst zwischen Film, Fotografie und Installation vielmehr unterschiedliche Zustände von Bildern zu beobachten, die sich abhängig von ihrer Bewegung und ihrer dispositiven Erscheinungsform manifestieren.

Gemeinsam ist den beiden Sammelbänden das Ziel, verschiedene Disziplinen über die Diskussion von medialen und bildlichen Phänomenen miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Herausgeber holen sich dabei künstlerische Positionen mit ins Boot und versuchen so, über die Praktiken mit Medien deren Spezifik genauer zu fassen. Die gut lesbaren Texte ermöglichen einen umfassenden Einblick in die vielfältigen Formen der Grenz- und Übergänge zwischen Film und Fotografie und bieten exzellente Werkanalysen; darüber hinaus werden theoretisch Fragen jedoch oft nur angerissen. So stellt sich, von Ausnahmen abgesehen, neben aller Anschaulichkeit die Frage nach der Übertragbarkeit auf andere Phänomene oder generell nach der Fruchtbarkeit für eine Kritik des fotografischen Bildes oder des Films.

Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Diskurse im deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum zeigen sich vor allem an der verschiedenartigen thematischen und methodischen Ausrichtung der Bände: In Still Moving werden Fragen von Kultur, Nationalität und Gender in die Diskussion eingebracht und in sehr heterogene Beiträge eingewoben. Viele der Texte befinden sich im Fahrwasser der Visual und Cultural Studies; umso erstaunlicher ist es, dass die Herausgeberinnen trotzdem auf einer starren Gegenüberstellung von Kunstgeschichte und Filmwissenschaft bestehen, deren methodische Spezifik selten deutlich wird. Manchen der Beiträge fehlt es in der Folge auch an begrifflicher Schärfe. In Freeze Frames hingegen werden entlang eines spezifischen, Kohärenz stiftenden Bildphänomens und seiner Facetten überwiegend medienphilosophische mit technischen Fragen enggeführt. Der deutschsprachige Band profitiert dabei von einer langen Tradition europäischer Medienwissenschaft, deren Umgang mit Medien als Kulturtechniken in Kombination mit einer bildwissenschaftlich orientierten Kunstgeschichte sowie medienphilosophischen Positionen eine vielversprechende Konstellation darstellt. Beide Bücher bieten wichtige Einblicke in noch lange nicht abgeschlossene, interdisziplinäre Diskussionen, von denen diejenige um Fotografie und Film nur eine darstellt. Sie machen aber einmal mehr deutlich, dass eine mit zeitgenössischen Phänomenen befasste Kunstgeschichte vom Blick über den Disziplinenrand nur profitieren kann, und dass sie sich im Konzert der Stimmen immer stärker behaupten muss.

Nina Lindemeyer