Rezension über:

Jens J. Scheiner: Die Eroberung von Damaskus. Quellenkritische Untersuchung zur Historiographie in klassisch-islamischer Zeit (= Islamic History and Civilization; Vol. 76), Leiden / Boston: Brill 2010, XIII + 816 S., ISBN 978-90-04-17684-3, EUR 205,00
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Rezension von:
Stephan Conermann
Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Conermann: Rezension von: Jens J. Scheiner: Die Eroberung von Damaskus. Quellenkritische Untersuchung zur Historiographie in klassisch-islamischer Zeit, Leiden / Boston: Brill 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 3 [15.03.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/03/19420.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 11 (2011), Nr. 3

Jens J. Scheiner: Die Eroberung von Damaskus

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Für Historiker ist es angesichts fehlender Originalzeugnisse schwer, die Ereignisse des ersten islamischen Jahrhunderts nach der Hidschra (622-718) zu rekonstruieren. In vielen wegweisenden Studien hat bereits Albrecht Noth (gest. 1999) auf die Widersprüchlichkeit in den später verfassten historiographischen Quellen hingewiesen. Nun hat sich Jens Scheiner der verdienstvollen, aber auch mühsamen Aufgabe unterzogen, die in der Islamwissenschaft gut etablierte Methode der isnad-cum-matn-Analyse auf die Überlieferungen (akhbar) über die Einnahme von Damaskus durch die Muslime während der ersten Eroberungszüge nach dem Tod des Propheten anzuwenden. Ähnlich wie die Hadithe bestehen die akhbar aus einer einleitenden Kette von Namen und Personen, die die inhaltliche Information (vorgeblich) von Gelehrtengeneration zu Gelehrtengeneration weitergegeben haben (isnad) und einem inhaltlichen Teil, der die (historische) Information trägt (matn). Tradenten nahmen, wie Scheiner in seiner Einleitung schreibt, hinsichtlich des Textes, den sie überlieferten, verschiedene Aufgaben wahr. Manchmal zitierten sie ihn wörtlich, manchmal vereinten sie den Text einer Überlieferung mit dem einer anderen. Bisweilen haben wir es auch mit Sammlern mehrerer Traditionen zu tun, die diese - in veränderter oder unveränderter Form - weitergaben. Gewirkt haben diese muslimischen Überlieferer schon sehr früh innerhalb eines Kollegbetriebes, in welchem Überlieferungen und Wissen mündlich und schriftlich weitergegeben wurden.

In der isnad-cum-matn-Analyse, um diese auch an dieser Stelle ganz kurz in Anlehnung an die Ausführungen von Scheiner zu skizzieren, geht es um die Identifikation von Überlieferungskomplexen zu einem Ereignis. Zunächst stellt man basierend auf Indizien im isnad (zum Beispiel identische Tradenten) oder im matn (zum Beispiel narrative Gemeinsamkeiten wie Handlungsgerüst, Motivbestand und Wortwahl) alle Überlieferungen zusammen, die mutmaßlich zu einem Überlieferungskomplex gehören. Anschließend untersucht man die Einzelbausteine beider Elemente in einem komplexen Verfahren unabhängig voneinander. Eine Datierung der Tradition ergibt sich in erster Linie durch die Ermittlung eines common link, also des ältesten gemeinsamen Tradentens innerhalb eines Überlieferungskomplexes. Dieser Überlieferer stellt in der Regel den ersten systematischen Sammler der jeweiligen Überlieferung dar, die er schriftlich fixiert und im Kollegbetrieb verbreitet hat.

Durch die Kombination von isnad-cum-matn-Analyse und Durchleuchtung des Materials auf Fiktionalisierung ist es zum einen möglich, einen relativ gesicherten und datierten Korpus der ältesten Überlieferungen zusammenstellen. Zum anderen erhält man durch die Untersuchung der rekonstruierten Grundversion auf fiktionale Elemente auch einen Gradmesser für deren Fiktionalisierung.

Beispiele für gelungene isnad-cum-matn-Analysen liegen vor allem zum Sira- und Hadith-Material vor. Die konsequente Anwendung auf historische Texte, wie Scheiner es hier durchexerziert, ist Neuland.

Da eine wichtige Voraussetzung der hier gewählten Methode die Sammlung und Sichtung aller verfügbaren Überlieferungen ist, hat der Autor neben einer Reihe nicht-islamischer Berichte die gesamte gedruckte islamische Literatur, die ihm sinnvoll schien und zugänglich war, nach akhbar zur Eroberung von Damaskus durchgeforstet. Am Ende stand ihm ein unglaubliches Korpus von mehr als 1000 unterschiedlichen Überlieferungen zur Verfügung.

Für eine zielführende Auswertung musste Scheiner eine sinnvolle Sortierung seines Materials vornehmen. Aus diesem Grund bieten die ersten beiden Kapitel eine wirklich sehr vorbildliche matn-cum-isnad-Analyse aller Überlieferungen, denen zufolge entweder Khalid b. Walid oder Abu Ubayd b. al-Jarrah Damaskus erobert hat (21-180 bzw. 181-384). Es folgen ausführliche Betrachtungen der Kurzversionen von akhbar, die nur eine Datierung der Eroberung von Damaskus angeben (385-422), und ein Abgleich der Ergebnisse mit den nicht-islamischen Quellen (423-450). Den Abschluss bildet die Einbeziehung von Aussagen, die nicht die Eroberung selbst betreffen, sondern Ereignisse, die in den Quellen regelmäßig mit der Eroberung verknüpft werden. (451-472) Einen wichtigen Teil der Arbeit stellt die ausgezeichnet aufbereitete tabellarische Darstellung der meisten der behandelten Traditionen dar (551-775). Sinnvolle Anhänge mit Übersichten über die rekonstruierten Fassungen und der zitierten Überlieferungen, ein Literaturverzeichnis und sehr hilfreiche Indices runden diese gelungene Studie ab.

Was ist nun der verwertbare Ertrag der hier zu besprechenden Abhandlung? Scheiner kommt letzen Endes zu folgenden Ergebnissen: (1) Wie bei den Überlieferungskomplexen der Sira- und Hadith-Literatur lassen sich auch in den akhbar die Versionen der common links rekonstruieren. (2) Diese Grundversionen können zum größten Teil in das 2. und 3. Jahrhundert nach der Hidschra (718-912) zurückverfolgt werden und gehen in der Regel auf Tradenten zurück, die in der islamischen biographischen Literatur als solche Gelehrte bekannt sind, die sich mit der Geschichtsschreibung befasst haben. (3) Im 2. Viertel des 2. Jahrhunderts nach der Hidschra (nach 742) hat es - offenbar sowohl im Irak wie auch in Syrien - eine ausgeprägte Geschichtsschreibung zur Eroberung von Damaskus gegeben.

Grundsätzlich scheint mir die erste wirklich wichtige Erkenntnis von Scheiners Studie zu sein, dass es im Gegensatz zum Sira- und Hadith-Material offenbar nicht möglich ist, gesicherte historische Überlieferungen zu rekonstruieren, die sich bis in die 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts nach der Hidschra (nach 670) datieren lassen. Die akhbar sind erst ca. ein Jahrhundert nach dem Ereignis fassbar. Aus diesem Grund bleibt auch jeder Versuch einer Rekonstruktion des historischen Hergangs, wie ihn der Autor auf den Seiten 491-493 vornimmt, recht vage und voller Unsicherheiten. Aber - und das halte ich für das zweite zentrale Resultat der metikulösen Analyse - man kann sich ja jenseits des "wie war es wirklich?" auch die Frage stellen, wofür sich die Tradenten selbst eigentlich interessierten, wenn sie über die Eroberung von Damaskus berichteten. Der Fokus verlagert sich damit - ganz zeitgemäß dem "linguistic turn" folgend, ohne dass Scheiner ihn aktiv rezipiert - auf die Ebene der sprachlichen Vermittlungsform. Die Überlieferer trieben folgende Überlegungen um: 1. Die Art der Eroberung - Einzeleroberung, Doppeleroberung oder von mehreren Seiten? 2. Welcher Prophetengefährte war in welcher Funktion beteiligt? 3. Verlief die Einnahme gewaltsam oder durch Vertag? 4. Gab es einen Ansprechpartner auf Seiten der Damaszener? 5. Wurde Damaskus vor der Erstürmung belagert? 6. Wenn eine Doppeleroberung vorlag - welche Vertragsart besaß dann Gültigkeit? 7. Wie sahen die Bedingungen des Friedensvertrages aus? 8. Wie steht es um das Datum der Einnahme?

Jens Scheiner hat alles in allem eine bewundernswert akribische und vorbildliche isnad-cum-matn-Analyse von akhbar-Material vorgelegt. Ähnliche Untersuchungen zu anderen historischer Ereignissen werden sicher neue Erkenntnisse liefern. Weitere Fallstudien sind, wie Scheiner am Ende seiner Arbeit schreibt, nötig, um tiefergehende Aussagen über die frühe islamische Geschichtsschreibung und die Transmission von Überlieferungen im Kollegbetrieb zu treffen. Aber ganz ehrlich: Wer um Himmels willen möchte eine solch kräftezehrende Aufgabe noch einmal auf sich nehmen?

Stephan Conermann