Mohammed Khallouk: Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas. Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, 345 S., ISBN 978-3-531-15949-2, EUR 49,95
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Die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 in New York, vom 12. Oktober 2002 auf Bali, vom 16. Mai 2003 in Casablanca, vom 11. März 2004 in Madrid und vom 07. Juli 2005 in London und ihre katastrophalen Folgen versetzten die Menschen in Angst und Schrecken vor einem im Namen des Islam durchgeführten Krieges. Seit diesen Anschlägen ist es immer dringender geworden, Lösungen für ein besseres Verständnis und für ein friedlicheres Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen zu finden. Dieses Zusammenleben wird nicht durch den vermeintlichen "Kampf der Kulturen", sondern in erster Linie durch einen "Kampf des Imaginären" erschwert. Die politische Instrumentalisierung des Islam wird im westlichen soziopolitischen Diskurs pauschal ohne länderbezogene Differenzierung mit islamischem Fundamentalismus assoziiert und als eine fortschritt- und toleranzfeindliche gesellschaftspolitische Anschauung betrachtet. Um diese Zuschreibungen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, analysiert Khallouk in seinem Werk den Islamismus länderbezogen. Dabei rückt er die Frage nach spezifischen Geistesströmungen innerhalb des Islamismus in Marokko sowie nach dem Stellenwert des Islam innerhalb der marokkanischen Gesellschaft in den Vordergrund.
Diese Fragen stellen den Dreh- und Angelpunkt des Werkes von Mohammed Khallouk dar, das sich in sechs Hauptteile gliedert. Das Buch bietet, wie gesagt, eine länderbezogene Fallstudie zum Islamismus in Marokko. Aufgrund des äußerst schwierigen Zugangs zu den Werken marokkanischer Islamisten einerseits und des Mangels an Untersuchungen zum Islamismus in Marokko anderseits leistet Mohammed Khallouk durch diese Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Forschung. Er stützt sich ausschließlich auf literarische Quellen in Form sehr gut recherchierter Schriften bekannter marokkanischer Islamisten, um mit Hilfe der deduktiven Methode der Erkenntnisgewinnung die tatsächliche Ideologie des Islamismus in dem Maghrebstaat zu enthüllen.
Nach einer ausführlichen Einleitung präsentiert der Autor im ersten Hauptkapitel zunächst die historische Entwicklung des islamischen Fundamentalismus von der Dynastie der Umayyaden und der Abbasiden über die mongolischen und türkischen Eroberungszüge bis hin zur Muslimbruderschaft in Ägypten und der islamischen Revolution in Iran. Der Autor stellt dabei fest, dass der islamische Fundamentalismus besonders in jenen Epochen an Bedeutung gewann, in denen die islamische Zivilisation einen vermeintlichen Niedergang ihrer Kultur miterlebte. Zu den Faktoren, die den islamischen Fundamentalismus und dessen Abwehrmentalität in der Neuzeit verstärkt haben, zählt der Autor die intellektuelle und wirtschaftliche Überlegenheit der westlichen Kultur und die damit verbundene Furcht vor einem Einflussverlust der Religion. Vor diesem Hintergrund definiert Khallouk den islamischen Fundamentalismus als eine buchstabengetreue Textauslegung verbunden mit einem Absolutheitsanspruch, sämtliche Gesellschaftsbereiche nach den Vorschriften der Šarī'a laut ihrem Verständnis zu verwalten.
Im zweiten Kapitel des Werkes erarbeitet der Autor die Bedeutung des Islam für Marokko und seinen Einfluss auf die politische Entwicklung des Landes von den Idrisiden im 8. Jahrhundert bis hin zu der seit 1666 herrschenden Dynastie der Alawiden. Aus diesem historischen Überblick zieht der Autor das Fazit, dass der Islam für sämtliche muslimischen Dynastien in Marokko als Legitimationsmechanismus fungierte und einen direkten Einfluss auf ihre historisch-politische Entwicklung ausübte.
Das dritte Kapitel widmet sich der bedeutenden islamistischen Bewegung 'al-'Adl wa l-Iḥsān (Vereinigung für Gerechtigkeit und Wohlfahrt), deren Entstehung signifikant mit dem Werdegang ihres Begründers 'Abd as-Salām Yāsīn (geb. 1928) zusammenhängt. Khallouk kommt zu dem Schluss, dass die Vereinigung 'al-'Adl wa l-Iḥsān nicht-islamische Werte grundlegend ablehnt und die Wiedererrichtung eines Kalifats anstrebt, das sich über die gesamte islamische Zivilisation ausdehnen soll.
Im vierten Kapitel widmet sich der Autor der islamistischen Partei Ḥizb al-'Adāla wa t-Tanmiya (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, kurz PJD), die seit 1997 (vorher als MPCD bekannt) einen festen Bestandteil des marokkanischen Parteisystems darstellt und seit 2002 die stärkste Oppositionspartei in Marokko ist. Die islamistische Ausrichtung der Partei wurde durch den Zusammenschluss mit der bis 1996 staatlich verbotenen islamistischen Bewegung at-Tawḥīd wa l-Iṣlāḥ (Bewegung für Monotheismus und Reform) verstärkt. Letztere fand in der 1997 von MPCD zur PJD (Parti de la Justice et du Développement) umbenannten Partei das jahrelang gesuchte politische Betätigungsfeld. Der Autor erschließt aus einer Analyse der Programmatik der PJD, dass sie sich sowohl von den radikalen Islamisten, insbesondere nach den Terroranschlägen vom 16. Mai 2003 in Casablanca, als auch vom Absolutheitsanspruch der Monarchen distanziert.
Im fünften Kapitel steht sowohl die Problematik der Durchsetzung der Šarī'a als auch die der Errichtung eines islamischen Staates im Mittelpunkt der Untersuchung. Nach einer relativ kurzen und allgemeinen Einführung in die Šarī'a als ethischem und rechtlichem Verhaltenskodex der Muslime untersucht der Autor, ob die Šarī'a, welche im Westen durch Pauschalurteile, spektakuläre Todesurteile und drakonische Körperstrafen in Verruf geraten ist, mit den modernen Entwicklungen tatsächlich kollidiert und keinerlei Anpassungen an die Bedingungen der Moderne zulässt. Um den entwicklungsfähigen Charakter der Šarī'a unter Beweis zu stellen, unterstreicht Khallouk, dass es niemals die eine Šarī'a gegeben hat, sondern eine Vielzahl vom zeithistorischen Kontext abhängiger Textinterpretationen und juristischer Lehrmeinungen. Er betont, dass sowohl die PJD als auch 'Al-'Adl wa l-Iḥsān zwar die Durchsetzung der Šarī'a in allen Gesellschaftsbereichen anstreben, sie sich aber hinsichtlich ihrer Einstellung gegenüber der Moderne unterscheiden. Im Vergleich zur PJD geht die "Vereinigung für Gerechtigkeit und Wohlfahrt" sogar einen Schritt weiter und strebt die Errichtung eines islamischen Staates an, der nicht auf der Vernunft, sondern lediglich auf der Autorität des Kalifen fußt und jegliche Form der Modernisierung ablehnt. Laut dem Autor wird dieses Ansinnen unerfüllt bleiben, da politische Entscheidungen in Marokko durch die rationale Wahrnehmung gesellschaftlicher Ansprüche getroffen werden. Anhänger des moderaten Islamismus (PJD) hingegen sehen in der Moderne weder eine Gefahr noch eine Konkurrenz, da die Šarī'a in ihrem Verständnis moderne Rechtsstaatlichkeit nicht ausschließe, zumal Demokratie nichts Weiteres als eine zeitgemäße Interpretation der Šūra sei. Nach einer ausführlichen Analyse des Islamismus in Marokko kommt der Autor zum Ergebnis, dass jeder, der die Šarī'a als ein in sich vollendetes Rechtssystem betrachtet, die Botschaft des Propheten nicht verstanden habe. Laut Khallouk orientierte sich die Šarī'a an den wechselnden Entwicklungen und Ansprüchen der muslimischen Gemeinschaft und kann dadurch keineswegs eine kontextunabhängige irrationale Nachahmung der medinensischen Ordnung akzeptieren. Abschließend stellt der Autor fest, dass die Marokkaner die Šarī'a als eine Aufforderung erkennen müssen, sich von einem unzeitgemäßen Schriftverständnis zu befreien sowie zwischen profaner und sakraler Problembewältigung zu differenzieren.
Das sechste Kapitel gibt einen Ausblick über die tatsächliche Gefahr des Islamismus. Dabei gelangt Khallouk zu dem Ergebnis, dass der Islamismus erst dann als eine Bedrohung für Pluralismus und Fortschritt eingestuft werden darf, wenn das Ziel der Islamisten darin besteht, dem Kollektiv ein vormodernes Gesellschaftsmodell aufzuoktroyieren und ihr Islamverständnis den Mitgliedern einer Gesellschaft aufzuzwingen. Für die Stärkung des Islamismus in der Neuzeit macht der Autor sowohl Marokko als auch Europa verantwortlich. Dem Islamismus in Marokko ließe sich laut Khallouk aufgrund der Verwobenheit des Islam mit der Politik durch eine demokratische Modernisierung nach islamischen Grundsätzen angemessen begegnen. Europa könne ebenso dazu beitragen, den Islamismus für die Marokkaner weniger attraktiv zu machen, indem es ihnen die Teilhabe an den in Europa vorhandenen Entwicklungschancen ermögliche.
Abschließend ist zusammenfassend festzustellen, dass Khallouk mit seiner Untersuchung des Islamismus in Marokko einen wichtigen Beitrag zur Forschung leistet. Die Studie trägt zum besseren Verständnis des Islamismus in dem Maghrebstaat bei, der in Deutschland nicht im Mittelpunkt islamwissenschaftlicher Forschungen steht.
Abdelkader Al Ghouz