Rezension über:

Adam H. Becker: Fear of God and the Beginning of Wisdom. The School of Nisibis and the Development of Scholastic Culture in Late Antique Mesopotamia (= Divinations: Rereading Late Ancient Religion), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2006, xvi + 298 S., ISBN 978-0-8122-3934-8, GBP 45,50
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Rezension von:
Dmitrij Bumazhnov
Asien-Orient-Institut, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Dmitrij Bumazhnov: Rezension von: Adam H. Becker: Fear of God and the Beginning of Wisdom. The School of Nisibis and the Development of Scholastic Culture in Late Antique Mesopotamia, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2006, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/04/16896.html


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Adam H. Becker: Fear of God and the Beginning of Wisdom

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Formal besteht das Buch, dessen frühere Fassung 2004 als Dissertation in Princeton eingereicht wurde, aus einer Einleitung (1-21, 211-220), neun Kapiteln (22-203, 220-272), einem Resümee (204-209, 272-273), dem Literaturverzeichnis (275-286) und dem Namen- und Sachregister (287-295). Als Ziel seines Forschungsvorhabens benennt Becker die Verfolgung einiger Entwicklungslinien der Kultur des religiösen Lernens in der Kirche des Ostens (d.h. bei den "Nestorianern") am Beispiel der intellektuellen und institutionellen Geschichte der Schule von Nisibis (Mesopotamien) in der Spätantike und in der frühen islamischen Zeit (204).

Die wichtigste Quelle, der sich die Studie widmet, ist Der Grund für die Etablierung der Schulen [1] des Bar8adbešabbā von 'Arbāyā (bzw. von (ulwān) aus dem späten 6. Jahrhundert. [2] Diese Schrift gestaltet sich als eine Begrüßungsrede, gerichtet an die Studenten der theologischen Schule von Nisibis, denen sie eine lange Kette von Schulen seit der Erschaffung der Welt bis zu ihrer nisibinischen alma mater vorführt. In diesem Zusammenhang erscheint das Lernen in Nisibis in einem geradezu kosmischen Kontext, was den Verfasser dazu berechtigt, das von der Causa vorausgesetzte Studium als Form von religious practice (209) zu betrachten.

Weil die Causa das christliche Leben von einem pädagogischen Gesichtspunkt her als Schule auffasst, fragt der Verfasser im ersten Kapitel (22-40) nach den theologischen Vorbildern dieses Modells im spätantiken Syrien und Mesopotamien. Die eigentliche Geschichte der Schule von Nisibis beginnt im Jahre 489, als ihre Vorgängerin, die sogenannte "Schule der Perser" in Edessa, unter Kaiser Zenon geschlossen wird, ein Teil ihrer Schüler nach dem persischen Nisibis auswandert und sich dort als eine theologische Schule etabliert. In den Kapiteln 2 (41-61) und 3 (62-76) werden die Quellen zur "Schule der Perser" kritisch untersucht. Dabei revidiert der Verfasser eine ganze Reihe von den in der wissenschaftlichen Literatur üblicherweise vertretenen Meinungen zum Charakter und zur Geschichte dieser Schule.

Dieser Kritik liegt eine wichtige Quellenunterscheidung zugrunde: Nach Becker übertragen die Quellen nach 489 die Situation in der Schule von Nisibis im 6. Jahrhundert auf die frühere Schule der Perser in Edessa im 5. Jahrhundert. Die einzige Quelle zur Schule der Perser, die der Verfasser gelten lässt, ist eine Notiz in den Akten der 'Räubersynode' von 449. Im Unterschied zu den Meinungen seiner Vorgänger stellt sich Becker die Schule der Perser nicht als eine entwickelte Lehrinstitution, sondern eher als einen relativ frei gestalteten Zirkel nationalen Charakters vor (63-64). Hochinteressant in diesem Zusammenhang ist auch, dass die Akten von 449 auch von zwei anderen Schulen in Edessa - der Armenier und der Syrer - wissen (64 vgl. 204), deren Entstehung der Verfasser auf den Exodus der Christen aus dem persischen Reich nach der Niederlage des Julian Apostata im Jahr 363 zurückführt (68). Theologisch charakterisiert der Verfasser die Schule der Perser als Bollwerk konservativer syrischer Lehrmeinungen (74).

Im vierten Kapitel (77-97) wendet sich der Verfasser der Schule von Nisibis zu. Bei der Besprechung ihrer Begründung macht der Verfasser darauf aufmerksam, dass es in Nisibis bereits vor 489 anscheinend eine theologische Lehrinstitution gegeben hat (78). Etwas unvermittelt wirkt das lange Zitat, in dem die Kanones der nisibinischen Schule kommentarlos angeführt werden (81-86).

Der Gegenstand der Kapitel 5-7 ist die Causa: Kap. 5 (98-112) bespricht ihr Genre, Kap. 6-7 (113-125; 126-154) weisen die Einflüsse des Theodoros von Mopsuestia (Kap. 6) und der neuplatonischen Version der aristotelischen Logik (Kap. 7) auf die Causa nach. Der Verfasser zeigt, dass das Genre der 'eltā ("des Grundes für...") bei den Ostsyrern für die Erklärung der liturgischen Phänomene diente. Daraus schlussfolgert Becker, dass die beiden Studienzeiten des Jahres in der Schule von Nisibis als Teile des sakralen Kalenders angesehen wurden (105-106), was er als Bestätigung seiner These von der religiösen Auffassung des Studiumsprozesses in der Schule von Nisibis ansieht (vgl. 20 und die als "Study as Ritual in the Church of the East" betitelte Zusammenfassung, 204-209).

Die beiden letzten Kapitel gehen in ihrer Darstellung über die zeitliche Grenze der Causa (Ende des 6. Jahrhunderts) hinaus und untersuchen die ostsyrische Schulbewegung in der spätsasanidischen und frühislamischen Zeit. Kap. 8 (155-168) bietet eine dreiteilige Typologie der ostsyrischen theologischen Schulen (die unabhängigen und monastischen Schulen sowie die Dorfschulen), im Kap. 9 (169-203) wird auf den monastischen Kontext der Schulbewegung in Mesopotamien eingegangen. In einem Exkurs (197-203) wird der Niedergang der Schule von Nisibis unter ihrem Vorsteher (Enānā von Adiabene (571 - ca. 610)) dargestellt.

Die Verbindung der schulisch-theologischen Perspektive mit der monastischen, wie es insbesondere im 9. Kapitel aber auch durchgehend im Buch von Becker geschieht, ergibt einen äußerst produktiven Gesichtspunkt auf die Entwicklung des ostsyrischen Christentums im 4.-7. Jahrhundert, der beinahe alle ihren wichtigsten Aspekte - von der Missionstätigkeit der Ostsyrer abgesehen - in einer sachgerechten Weise berücksichtigen und ordnen lässt. Darin, wie auch in der überzeugenden Revision einer ganzen Reihe der bisherigen gelehrten Meinungen über die Schule von Nisibis, liegt das große wissenschaftliche Verdienst dieses Werkes, das über die vom Verfasser selbst angedeuteten Richtungslinien für weitere Untersuchungen (204) hinaus zahlreiche anregende Forschungsimpulse ausstrahlt.

Unter den gut gelungenen Einzeluntersuchungen wären beispielsweise die Analyse der Verflechtung der aristotelischen Einflüsse mit der Theologie des Theodoros von Mopsuestia in der Causa (Kap. 7) oder die Ausführungen über ihre Gattung (Kap. 5) zu nennen.

Weniger überzeugend wirkt die Erklärung der "Schule der Perser" in Edessa als Bezeichnung einer vor allem ethnischen Gruppe, die nur "metaphorisch" (65) "Schule" hieß. Den Hinweis auf die Übertragung des paganen Terminus hairesis auf die von der Großkirche lehrmäßig abweichenden christlichen Gruppen (66) kann man als Parallele insofern nicht gelten lassen, als hairesis - sei es im christlichen oder paganen Bereich - keine ethnische Konnotation beinhaltet, die nach der Erklärung von Becker bei der Bezeichnung "Schule" in Edessa in den Vordergrund tritt.

Dass der Zölibat in der Gemeinde des Aphrahat eine Bedingung für die Taufe gewesen ist (173), stimmt nicht. Dies war höchstwahrscheinlich auch in der früheren Zeit in Mesopotamien nicht der Fall.[3] Statt "members of orders" (64) wäre für bnay qyāmā die herkömmliche Übersetzung "sons of the covenant" vorzuziehen, zumal qyāmā im Singular steht. Ob Dionysius Areopagita als "Syrian writer" (15, vgl. 178) zu bezeichnen wäre, ist zumindest fraglich.

Viel wichtiger als diese letzte Ungenauigkeit ist es, dass Becker das Korpus des Ps.-Dionysius als die Weiterentwicklung der evagrianischen Gedanken vorstellt (178). Der Hinweis auf István Perczel reicht für die Begründung dieser hoch kontroversen Behauptung nicht aus. Gerade die Genese des Buches des Heiligen Hierotheus, auf das sich der Verfasser auf der gleichen Seite bezieht, zeigt, dass der zentrale Mythos des Evagrius im scharfen Gegensatz zu dem System des Dionysius stand und auch so ausgerechnet in Syrien wahrgenommen wurde. [4]

Sehen wir zum Schluss aufs Ganze, so möchte man die Fortsetzung der Studie im Rahmen eines umfangreicheren Projektes, das Becker (17) in Aussicht stellt, ausdrücklich begrüßen.


Anmerkungen:

[1] Syr. 'eltā da-syām mawtbā d-eskūlē (im Folgenden: Causa). Zu den möglichen Übersetzungsvarianten des Titels der Causa siehe A. H. Becker: Fear of God, 104-106.

[2] Ob dieser Bar8adbešabbā auch der Autor der sogenannten "nestorianischen" Kirchengeschichte sei, lässt Becker in seiner späteren Publikation letztlich offen, siehe Adam H. Becker: Sources for the History of the School of Nisibis (=Translated Texts for Historians 50), Liverpool 2008, 11-16.

[3] Siehe G. Nedungatt: The Covenanters of the Early Syriac-Speaking Church (=Orientalia Christiana Periodica 39), 1973, 441-442.

[4] Siehe dazu K. Pinggéra: All-Erlösung und All-Einheit. Studien zum 'Buch des heiligen Hierotheos' und seiner Rezeption in der syrisch-orthodoxen Theologie (= Sprachen und Kulturen des Christlichen Orients; 10), Wiesbaden 2002.

Dmitrij Bumazhnov