Heidi Eisenhut: Die Glossen Ekkeharts IV. von St. Gallen im Codex Sangallensis 621 (= Monasterium Sancti Galli; Bd. 4), St. Gallen: Verlag am Klosterhof 2009, 497 S., ISBN 978-3-906616-90-2, CHF 98,00
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Der hispanische Presbyter Orosius, über dessen Lebensweg sonst nur wenig bekannt ist, verfasste 415/418 auf Anregung des Bischofs Augustinus von Hippo Regius, den er in Africa kennengelernt hatte, die "Historiae adversum paganos". Ebenso wie Augustinus, dessen Werk "De civitate dei" etwa gleichzeitig entstand, folgte Orosius einer apologetischen Tendenz, denn angesichts der Eroberung Roms durch Alarich 410 und des unter dem Ansturm der Barbaren sich abzeichnenden Zerfalls der weströmischen Reichshälfte verwahrte er sich gegen den von den Heiden erhobenen Vorwurf, dass die Abkehr von den alten Göttern für das gegenwärtige Unheil verantwortlich sei. Demgegenüber versuchte Orosius von der Sintflut bis zum Jahr 417 darzulegen, wie sehr die Geschichte der Menschheit bereits in vorchristlicher Zeit von Katastrophen geprägt gewesen sei und sich in christlicher Zeit vielmehr eine Besserung abzeichne.
Abgesehen von der Faktengeschichte, die letztlich aber nur für Orosius' Gegenwart von eigenständigem Wert ist, haben die "Historiae" hauptsächlich wegen ihres geschichtstheologischen Entwurfs gewirkt. Über die auch von Orosius vermittelte Lehre von den vier Weltreichen hinaus ist vor allem das Zusammentreffen der Geburt des Herrn mit der Herrschaft des Augustus zu nennen, weil erst die vom Princeps geschaffene römische Friedenszeit die Ausbreitung des Christentums ermöglicht habe. Diese Verknüpfung von römischem Reich und christlicher Lehre führte zu heilsgeschichtlich aufgeladenen Vorstellungen vom Imperium Romanum, beeinflusste jüngere Autoren und verlieh dem Werk eine große Bedeutung.
Erste Spuren der Orosiusrezeption zeigen sich bereits im 5. Jahrhundert. Die beeindruckend breite handschriftliche Überlieferung reicht vom 6. bis in das 17. Jahrhundert und soll abgesehen von Bruchstücken und Auszügen 249 Textzeugen umfassen, von denen die meisten aus der Zeit vom 8. bis zum 13. Jahrhundert stammen. Zu nennen sind darüber hinaus Erwähnungen in mittelalterlichen Bibliothekskatalogen und vor allem die breite Benutzung durch andere Geschichtsschreiber wie Beda Venerabilis, Paulus Diaconus, Frechulf von Lisieux, Ado von Vienne, Frutolf von Michelsberg oder Honorius Augustudonensis, die den hohen Rang dieser vielgelesenen christlichen Universalgeschichte nachdrücklich unterstreicht.
Einer der Textzeugen entstand im 9. Jahrhundert in St. Gallen und gelangte aus dem Besitz des dort von 872 bis 883 schließlich als Abt amtierenden Hartmut in die Klosterbibliothek. Dieser Codex Sangallensis 621 wurde in zwei Durchgängen von Ekkehart IV. von St. Gallen umfassend glossiert, einem vielseitigen, auch außerhalb seines Klosters tätigen Gelehrten und Lehrer, der vor allem als Verfasser der "Casus sancti Galli" bekannt ist und frühestens am 21. Oktober 1057 starb.
Orosius, der Codex, St. Gallen, Ekkehart und die Glossen sind Gegenstand dieser grundgelehrten Zürcher Dissertation, die von Reinhold Kaiser betreut und 2006 angenommen wurde. Angesichts des komplexen Gegenstandes und der komplexen Darstellung, die alles andere als eine kurzweilige Lektüre bietet, sondern ihrem philologisch-literarhistorischen Charakter nach höchste Aufmerksamkeit fordert, kann das Buch kaum mit wenigen Worten angemessen gewürdigt, sondern letztlich nur vorgestellt werden.
Die Darstellung besteht aus fünf Teilen. Nach einem Blick auf die Biographie des Orosius, den Charakter der "Historiae", deren Rezeptionsgeschichte und Themen der Forschung untersucht Heidi Eisenhut in einem zweiten Abschnitt die Beschäftigung mit den "Historiae" in St. Gallen bis zu Ekkehart IV. Ein drittes Kapitel, das sich grundsätzlich den Glossen zu Orosius widmet, geht von Überlegungen zum Begriff "glossa" und zur Glossenforschung aus und mündet in die Vorstellung von Handschriften der einschlägigen Textglossare und glossierten Werktexte. Der vierte Teil zielt auf den Codex Sangallensis 621: Nach einer ausführlichen Beschreibung der Handschrift wird hauptsächlich eine Typologie der Erläuterungen entworfen und das Fortleben der sangallenser Orosiusglossierung in einigen wenigen Handschriften vorgestellt. Der fünfte Abschnitt beschäftigt sich schließlich unter inhaltlichen Gesichtspunkten mit ausgewählten Glossen und Glossengruppen. Am Schluss stehen einige sehr qualitätvolle Abbildungen, verschiedene Anhänge und die üblichen Verzeichnisse.
Besonderes Interesse können der vierte und der fünfte Abschnitt beanspruchen, in denen die über 7400 Tintenglossen unter verschiedenen Gesichtspunkten eingeteilt werden. Mit Blick auf die Typologie der Glossen werden Korrekturen und Varianten, sodann lexikalische, grammatische und syntaktische Erläuterungen sowie Kommentarglossen unterschieden. Zur ersten Gruppe gehört an einer Stelle etwa Ekkeharts Hinweis, dass es statt "ducitur" vielmehr "dicitur" heißen müsse. Rund 2000 Glossen zählen zur zweiten Gruppe, in der nach dem Beispiel "inextricabilia] inenarrabilia" oder "exercitandi] docendi et agendi" Wörter oder Wortpaare durchaus mit Blick auf Bedeutungsnuancen mit Synonymen erklärt werden. Die grammatischen Glossen erstrecken sich auf einschlägige Hilfen wie die Angabe des Geschlechts etwa in "haec serpens] nota femininum genus". Die über 2600 syntaktischen Erläuterungen ergänzen elliptische und erklären komplex gebaute Sätze, dienen einem möglichst eindeutigen Textverständnis, bieten aber keine Informationen, die über den Grundtext hinausgehen. Anders verhält es sich mit den etwa 2700 Kommentarglossen, die Belehrungen zur Geographie, zu Personen und Völkern und verwandten Bereichen enthalten. Dieses Material ist letztlich aber recht heterogen und reicht von Glossen des Typs "cappadociam] romanorum prouintiam" oder "amomum] species ad medicinam valens" bis hin zur Anführung anderer Autoritäten durch die Nennung des Werk- oder Autorennamens.
Die Darstellung erschließt die im Internet unter der Adresse "http://orosius.monumenta.ch" abrufbare Edition der Glossen, die ebenfalls von Heidi Eisenhut gefertigt wurde. Diese Ausgabe bietet zunächst die Transkription von Grundtext und Glossen, denen das Faksimile gegenübersteht. Hinzukommen die genaue Stellenangabe in der Handschrift nach Seite, Spalte und Zeile, die Fundstelle in den modernen Editionen nach Buch, Kapitel und Abschnitt sowie ein Nachweis aus den vom Codex Sangallensis 621 abhängigen Manuskripten. Abrufbar sind ferner jeweils die Einordnung in die Glossentypologie, der zusammenhängende Grundtext, der Variantenapparat und der Kommentar mit Stellennachweisen sowie Sacherläuterungen, wobei die Stellennachweise fallweise mit im Internet zugänglichen Ausgaben wie der Vulgata oder Vergils Aeneis verknüpft sind. Schließlich bietet die Ausgabe noch eine Suchfunktion unter anderem im gesamten Text, in den Lemmata und in den Glossen sowie eine Sortierung nach Glossentypen.
Darstellung und Edition lassen mit Blick auf die Möglichkeiten der Präsentation und der Arbeit mit dem Material wohl keinen Wunsch offen. Heidi Eisenhuts Leistung gebührt sowohl wegen des getriebenen Aufwands als auch wegen des vorbildlich gelehrten Charakters der Arbeit hoher Respekt. Vielleicht regt das Werk ja zu weiteren einschlägigen Studien und zur Publikation von zumal aufwendigen Editionen im Internet an.
Bernd Schütte