Rezension über:

Mathias René Hofter: Die Sinnlichkeit des Ideals. Zur Begründung von Johann Joachim Winckelmanns Archäologie (= Stendaler Winckelmann-Forschungen; Bd. 7), Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2008, 300 S., ISBN 978-3-938646-14-4, EUR 39,00
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Rezension von:
Charlotte Schreiter
SFB 644 "Transformationen der Antike", Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Alexis Joachimides
Empfohlene Zitierweise:
Charlotte Schreiter: Rezension von: Mathias René Hofter: Die Sinnlichkeit des Ideals. Zur Begründung von Johann Joachim Winckelmanns Archäologie, Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2008, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/04/17574.html


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Mathias René Hofter: Die Sinnlichkeit des Ideals

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Über Johann Joachim Winckelmann - so könnte es scheinen - ist längst alles gesagt. Dennoch fehlte bislang eine Studie, die sich explizit der insbesondere für Klassische Archäologen so zentralen Frage widmet, "was denn von seinen sachlichen Erkenntnissen und von seinem methodischen Zugang noch als gemeinsamer Grund der Archäologie gelten könne" (9).

Diesem Defizit, das Mathias Hofter als Folge der enthusiastischen Resonanz auf Winckelmann diagnostiziert, hilft seine Untersuchung ab.

Sein Buch, das auf einem festen Fundament der publizierten Werke sowie der in der Stendaler Winckelmann-Ausgabe edierten Notizen, Tagebücher und sonstigen schriftlichen Hinterlassenschaften aufbaut, stellt einen umfassenden und systematischen Zugang dar. Souverän handhabt er dieses Material auch und gerade vor dem Hintergrund der reichen Sekundärliteratur. [1]

In der Einleitung konkretisiert Hofter sein Konzept. Ausgehend von dem überraschenden Umstand, dass schon zwei Generationen nach Winckelmann seine positiven Erkenntnisse kaum noch eine Rolle spielten, geht es Hofter darum aufzuzeigen, "welche Erkenntnisstrategien mit Winckelmanns Namen verbunden werden können, die zur Genese der Archäologie beitrugen, und inwiefern diese wirklich grundsätzlich neue Gegenstandsfelder der Kultur des Altertums erschlossen" (10). Hofter verpflichtet sich in diesem Kontext einer Wissenschaftsgeschichte, die als Prozess der Ausdifferenzierung ihrer Erkenntnisstrategien anzusehen und weniger auf die fortschreitende Verifizierung ihrer Forschungsgegenstände gerichtet ist. Nicht immer allerdings kann er selbst der Versuchung widerstehen, Winckelmanns Erkenntnisse - vor allem in Kapitel V - an der heutigen (also richtigen?) Zuordnung und Interpretation einzelner Stücke zu messen.

Dass Winckelmann, ohne dies im Einzelnen zu explizieren, auf den Studien der barocken Antiquare aufbaut und so in einer langen Tradition steht, ist seit einiger Zeit Gegenstand von Diskussionen. [2] Hofter setzt hier nun eine Zäsur, indem er sein Augenmerk auf die beiden zentralen Merkmale der Methodik richtet, nämlich die Entwicklung einer Hermeneutik und einen im weitesten Sinne wissenschaftlichen Zugang. Er verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die oft als vorbildlich angesehenen älteren Zeichnungscopora lediglich in elitären Humanistenzirkeln kursierten (11f.), während sich Winckelmanns Schriften dank des aufstrebenden Buchmarktes einer weiten Verbreitung erfreuten. Dieser Aspekt spielte ebenso wie die zügige Rezeption in den Zeitschriften der Epoche - etwa durch Christian Gottlob Heyne in Göttingen (273f.) - für die enthusiastische Verehrung eine zentrale Rolle.

Hofter legt dar, dass Winckelmann sein Theoriegebäude nicht trotz, sondern vielmehr mithilfe der vorgefundenen theoretischen Voraussetzungen entwarf. Hierzu werden zunächst die Grundlagen insbesondere in der französischen Kunstkritik (Kapitel I) sowie in der Kultur der Antiquare (Kapitel II) erläutert, auf deren Anregungen Winckelmanns Neuformulierung des Ideals des Kunstschönen basiert (Kapitel III). Im ersten Kapitel fokussiert Hofter die frühen Schriften, die noch in Dresden entstanden, insbesondere die "Beschreibung der vorzüglichsten Gemälde der Dreßdner Gallerie", an der sich die starke Bindung an die Kunsttheorie des Barock zeigt (80-84).

Bei der Betrachtung der Werke der Antiquare nimmt Hofter entsprechend seinem Postulat der Zugänglichkeit und Verbreitung dezidiert die publizierten Schriften in den Blick, zu denen die großen Kompendien Bernard de Montfaucons und des Comte de Caylus gehören. Im Werk des Lyonnaiser Gelehrten Jacob Spon erkennt Hofter einen Vorläufer hinsichtlich der Klassifikation der nicht-literarischen Altertümer, auch wenn Spons narrativ-antiquarischer Herangehensweise der kunstgeschichtlich-typologische Zugriff Winckelmanns gegenüber steht. Von der Kunstkritik zur Bestandskritik führt schließlich die Rombeschreibung Jonathan Richardson d.Ä.

Hofter diagnostiziert einen grundsätzlichen kunsttheoretischen Perspektivwechsel Winckelmanns bereits für die 'vor-römische Zeit', vor der Abfassung der "Schriften über die Nachahmung" (1755), der ihn vom Kompromiss der französischen Kunstkritik zur Darlegung einer klassizistischen Konzeption führte. Der Vorzug von Winckelmanns Methode beruhte gegenüber gelehrten Diskursen und Interpretationen antiker Textpassagen auf der Anschauung (Kapitel IV). So erläutert Winckelmann die Gründe des Primats der antiken Kunst anhand der Dresdner Herculanerinnen: "Die schöne Natur" der Griechen, das idealische Schöne, von dem sich der "edle Kontur" ableitet und "endlich eine edle Einfalt und stille Größe, sowohl in der Stellung als auch im Ausdruck" (125f.).

In einem ausführlichen Kapitel zu "Allegorien des Eros" (133-150) thematisiert Hofter die Frage nach der Rolle von Winckelmanns Homosexualität. Gegenüber etwa Alexander Potts' intensiver Interpretation bietet Hofter eine kultur- und sittengeschichtliche Einbettung in die gesellschaftlichen Verhältnisse Roms im mittleren 18. Jahrhundert. Ausgehend von Foucaults These, dass es eine homosexuelle Identität im vorbürgerlichen Zeitalter nicht gegeben haben könne, zeigt Hofter, wie sich Winckelmann zwischen der barocken Tugend der Diskretion und dem Frauenbild der zeitgenössischen Kunst bewegte.

Trotz seiner Bevorzugung der nackten männlichen Figur erweiterte Winckelmann die Auswahl der betrachteten Denkmäler gegenüber seinen Vorgängern kaum. Selbst gegenüber dem seit der Renaissance etablierten Kanon ist diese gering (162). Er ging also exemplarisch vor, obwohl seine Notizen in der antiquarischen Tradition erkennen lassen, dass zunächst eine Art Gesamtinventar der römischen Sammlungen beabsichtigt war. Die eigene Anschauung unterscheidet Winckelmann in ihrer Konsequenz nun maßgeblich von seinen Vorgängern. Seine unveröffentlichten Notizen zu unvollendeten bzw. aufgegebenen Projekten (Belvederestatuen und Restaurierungen) belegen, dass gegenüber dem fast vollständigen Verzicht auf anschauliche Beschreibungen in der "Geschichte der Kunst des Alterthums" hierin die spezifische Stärke seiner Kunsttheorie lag und damit sicher auch ihre Wirkung auf nachfolgende Generationen. Winckelmanns selbständige Beobachtungen bilden jedoch zumindest die Voraussetzung für die methodischen Querschnitte in der "Geschichte der Kunst des Alterthums", obwohl diese eigentlich erst vor dem Hintergrund der unveröffentlichten Schriften verständlich werden (183-186).

Im letzten Kapitel führt Hofter die Stränge seiner Darlegung in der Charakterisierung der "Geschichte der Kunst des Alterthums" zusammen, wo er eine strukturierte Übersicht über die generellen Schemata und Abfolgen gibt und hierbei zugleich auf die Diskrepanz zwischen dem Erhaltenen und literarisch Belegten vor allem für den "hohen" und den "schönen Stil" der Griechen hinweist, dem auf der anderen Seiten ausgerechnet für die römische Kunst eine reiche Materialbasis gegenübersteht. Die daraus resultierenden Aporien und Winckelmanns Versuch diese aufzulösen wirken heute irritierend, erklären sich aber aus dem Kenntnisstand der Zeit und der Fokussierung auf Rom. Umso auffälliger ist, dass schon in der unmittelbaren Nachfolge, etwa in der Rezeption durch Heyne, der historische gegenüber dem systematischen Teil vernachlässigt wurde.

Abschließend charakterisiert Hofter Winckelmanns Scharnierfunktion zwischen den antiquarischen Studien des Barock und der "Kunstarchäologie" des 19. Jahrhunderts (273). Winckelmanns Erkenntnisfortschritt tritt vor dem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund des 17. und 18. Jahrhunderts klar zutage, insofern er vom antiquarischen Prinzip des Gesamtinventars über die eigene Anschauung und die Etablierung eines theoretischen Konzepts zu einem revolutionären und experimentellen Gesamtentwurf gelangte. Hofter gelingt es, einen Überblick über Winckelmanns publizierte wie unpublizierte Schriften mit einer breit angelegten Interpretation seiner Kunst- und Geschichtsphilosophie zu verbinden. Der dichten und komplexen Darstellung hier in aller Kürze gerecht zu werden, ist kaum möglich, da sich zahlreiche Aspekte erst in der Gesamtlektüre erschließen, die nur empfohlen werden kann.


Anmerkungen:

[1] Alexander Potts: Flesh and the Ideal, London 1994; Élisabeth Décultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften (= Stendaler Winckelmann-Forschungen; Bd. 2), Ruhpolding 2003 sowie dies.: in: Le comte de Caylus. Kolloquium Oxford, hg. von Nicholas Kronk / Kris Peters, Amsterdam 2004, 59ff.; Esther-Maria Sünderhauff: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal, Berlin 2004.

[2] Henning Wrede: Die Opera de' Pili von 1542 und das Berliner Sarkophagcorpus: Zur Geschichte von Sarkophagforschung, Hermeneutik und Klassischer Archäologie, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 104 (1989), 374ff.; hat herausgearbeitet, wie sehr Winckelmanns Hermeneutik auf ältere Verfahren zurückgreift.

Charlotte Schreiter