Jean-Jacques Becker / Gerd Krumeich: Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich 1914-1918, Essen: Klartext 2010, 354 S., ISBN 978-3-8375-0171-1, EUR 24,95
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Das Buch (schon 2008 auf Französisch erschienen) verfolgt im Wesentlichen drei miteinander konzeptuell eng verwobene Anliegen:
1. Es stellt gut lesbar und differenziert den Ersten Weltkrieg und seine Ursachen dar. Das Zielpublikum kann man weit fassen: Der Bildungsbürger ganz allgemein, aber auch der Fachwissenschaftler, sofern er nicht gerade den Ersten Weltkrieg als sein Spezialgebiet hat, wird vieles Neues und Nachdenkenswertes erfahren. Vermutlich nicht zuletzt wegen dieser allgemeinen Ausrichtung erfolgt keine explizite Verortung in die wissenschaftlich höchst kontroverse Diskussion. Das ist ein bisschen schade, denn der Leser, der nicht in den Wissenschaftskontroversen bewandert ist, wird auf die Sichtweise der Autoren festgelegt. Das Buch ist geschrieben: "in Erinnerung für Pierre Renouvin und Wolfgang J. Mommsen". Beide sind für ihr Profil bekannt und ausgewiesene Experten für den Ersten Weltkrieg. Gleiches gilt für die Autoren, die beide markante, viel und auch kontrovers diskutierte Standpunkte zum Thema eingenommen haben. Nicht anders zu erwarten: Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Überlegungen spielen eine große Rolle, nicht minder mentalitätsgeschichtliche Erwägungen.
2. Gerade die Verkoppelung von Mentalitäts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf der einen, sowie Politik- und Militärgeschichte auf der anderen Seite ist ein weiteres Anliegen des Buches und daraus ergeben sich die nachdenkenswerten Perspektiven. Ein Beispiel mag für viele Ausführungen stehen. Die Autoren stellen zur öffentlichen Meinung in Frankreich und in Deutschland vor Ausbruch des Weltkrieges fest: Die von Deutschland so gefürchtete Revanche Frankreichs für 1870/71 mit dem Ziel der Wiedergewinnung von Elsass-Lothringen war in Frankreich gar nicht so handlungsleitend. Das war eine deutsche Fehlwahrnehmung, die allerdings handlungsleitend für die Politik des Kaiserreiches wurde. Der Psychologe würde jetzt von Projektion sprechen. Der Begriff fällt allerdings nicht. Erst nach der zweiten Marokkokrise verfestigte sich in Paris und Berlin die Ansicht, dass ein Krieg wohl unausweichlich werde. Allerdings weisen die Verfasser die Hauptschuld an dem Kriegsausbruch weder Frankreich und im markanten Gegensatz zu Fischers Thesen auch nicht Deutschland zu, sondern Russland und Österreich-Ungarn. Weder Frankreich noch Deutschland hätten 1914 aktiv den Krieg betrieben. Und große Teile der öffentlichen Meinung in Frankreich und in Deutschland waren nicht auf Krieg gestimmt, selbst nicht im Juli 1914.
Als es dann doch zum Krieg kam, war die öffentliche Meinung auf beiden Seiten der gleichen Meinung: Vom Gegner sei der Krieg aufgezwungen worden. Man selber befinde sich in einem gerechten Verteidigungskrieg. So kam es über alle innenpolitischen Parteiungen hinweg in Frankreich zu einem patriotischen Kriegskonsens und in Deutschland zum Burgfrieden. Beide nicht ganz ohne Brüche, die genauestens analysiert werden. Aber der Kriegskonsens hielt letztlich bis zum Kriegsende und ermöglichte die ungeheure mentale, alle physischen und wirtschaftliche Ressourcen einspannende Mobilisierung, die mit harten und wehtuenden, wirtschafts- und finanzpolitischen Daten, mit Opfer- und Leidenszahlen sehr gründlich unterfüttert werden. Das alles zusammengenommen verdeutlicht die ungeheuere mentale Mobilisierung auf beiden Seiten. Dabei muss Frankreich, weil es von der Bevölkerungszahl her kleiner war und obendrein gerade wirtschaftlich produktive Gebiete besetzt waren, noch relativ mehr aufbringen als Deutschland. Alle Ausführungen enthalten jede für sich genommen nicht viel Neues (nicht zuletzt wegen der Forschungen der Verfasser), aber gerade die Zusammenbindung so vieler Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft macht das Buch so anregend und nicht zuletzt originell.
3. Das Buch ist durch und durch auf einen Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland angelegt. Alle untersuchten Bereiche werden fragestellungsgeleitet parallel behandelt. Damit unterscheidet es sich sehr wohltuend von nationalen Sichtweisen und weist den Weg für eine zukünftige Betrachtung von (Kriegs-)Geschichte im europäischen Rahmen, die mehr ist als eine bloße Aneinanderreihung von Nationalgeschichten. Das ist - auch methodisch - das Hauptverdienst des Buches.
Das Argument für die weitgehende Beschränkung auf Frankreich und Deutschland lautet: Sie seien schließlich die entscheidenden Hauptantagonisten im Krieg, der dann letztlich an der Westfront entschieden wurde. Dieses Argument leitet allerdings zu einem Desiderat über: Die Fokussierung auf Frankreich und Deutschland blendet zwar Österreich-Ungarn und Russland nicht vollständig aus (so wie die anderen Kriegsteilnehmer mit vielleicht der Ausnahme der USA). Aber Russland und Österreich-Ungarn werden - im Einklang mit dem Untertitel des Buches - nachrangig behandelt. Misslich ist hierbei insbesondere, dass zwar Österreich-Ungarn und Russland die Hauptschuld am Kriegsausbruch zugewiesen wird. Aber die Frage warum, wird nur peripher behandelt. Die Krise um Bosnien-Herzegowina (1908) wird z. B. nicht einmal erwähnt, ohne die das harte Verhalten Russlands 1914 nicht verständlich wird. Das Buch ist bei der Analyse des vielschichtigen Vorfeldes des Ersten Weltkrieges vielleicht zu ausschließlich auf den Westschauplatz zentriert.
Auch ist das Buch nicht ganz frei von redaktionellen Seltsamkeiten und terminologischen Ungenauigkeiten, die allerdings eher in die Rubrik Lässlichkeiten fallen. Aber weil sie nicht nur gelegentlich vorkommen, seien hier einige erwähnt:
Der Titel auf dem Umschlag stimmt nicht ganz mit der Titelseite überein (hier fehlt "Erster Weltkrieg".) Die Bezeichnung "österreichisch-ungarischer Kaiser" (257) trifft nicht zu. Es gibt in Personalunion nur einen Kaiser von Österreich und einen König von Ungarn. Der deutsche Kaiser ist nicht Haupt aller deutschen lutherischen Protestanten (83), sondern als König von Preußen nur Haupt der preußischen, so wie jeder Landesfürst "Summus Episcopus" nur seiner Lutheraner war.
Und besonders seltsam ist die ohne Einschränkungen getroffene Aussage: "Denn im Juli 1914 hatte niemand eine Vorstellung davon, welche Katastrophe ein Krieg verursachen würde" (69). Diese Aussage ist offensichtlich getätigt worden ohne Kenntnis des sechsbändigen Buches von Johann von Bloch "Der Krieg" (1899), einer Übersetzung des russischen Werkes mit dem Titel "Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung", in dem viele der tatsächlichen Auswirkungen des Weltkrieges erstaunlich zutreffend und publikumswirksam für das gesamte Europa vorweggenommen wurden. Bloch gilt immerhin als einer der Wegbereiter der 1. Haager Friedenskonferenz (1899). Auch die Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907) und - eigentlich zentral für das Buch: die fatalen Auswirkungen der Haltung des Kaiserreiches auf die öffentliche Meinung ganz Europas - sind ebenfalls weitgehend ausgeblendet. (Das Kaiserreich verhinderte auf den Haager Friedenskonferenzen weitergehende friedenssichernde Resultate.) Überhaupt wird der bürgerlichen pazifistischen Bewegung - vor allem Deutschlands - wenig Aufmerksamkeit gezollt. Nicht einmal der Name Bertha von Suttner taucht auf. Das Augenmerk gilt eindeutig mehr der kriegsablehnenden Haltung der Linken in beiden Ländern, was wohl mit den Forschungsschwerpunkten der Autoren zusammenhängt.
Aber all dies ändert nichts am Wert des Buches: Es ist inhaltlich und methodisch ein Meilenstein vergleichender europäischer Geschichtsdarstellung und obendrein gut geschrieben. Möge ein solches auf Zusammenschau, Vergleich und Zusammenbindung vieler historischer Teildisziplinen und methodischer Ansätze angelegtes Buch auch auf anderen Gebieten viele nachfolgende Werke finden!
Manfred Hanisch