Rezension über:

Mervyn Cooke: A History of Film Music, Cambridge: Cambridge University Press 2008, XXI + 562 S., ISBN 978-0-521-01048-1, USD 24,99
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Rezension von:
Tobias Janz
Musikwissenschaftliches Institut, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Janz: Rezension von: Mervyn Cooke: A History of Film Music, Cambridge: Cambridge University Press 2008, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5 [15.05.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/05/17889.html


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Mervyn Cooke: A History of Film Music

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100 Jahre Filmmusikgeschichte zwischen zwei Buchdeckel zu bringen, ist kein ganz leichtes Unterfangen. Allein schon der Index der in Mervyn Cookes A History of Film Music genannten Filmtitel lässt mit seinen rund 1800 Einträgen ahnen, welche Materialmengen hier zu bewältigen sind. Bei einer Durchschnittsspieldauer von 90 Minuten entspräche bereits diese Auswahl einer Spiellänge von etwa 2700 Stunden oder - bei ununterbrochener Projektion (!) - einem Zeitraum von annähernd vier Monaten. Dass das Ausmaß der von Cooke berücksichtigten Filmtitel die Grenzen dessen berührt, was ein Historiker im Detail zu überblicken vermag, liegt aber nicht nur in der Natur der Sache, sondern auch in Cookes Zugriff auf seinen Gegenstand begründet. Ich erinnere mich an eine wissenschaftliche Tagung vor einigen Jahren, auf der der Filmemacher und Filmhistoriker Fred van der Kooij seinen Vortrag mit der provozierenden, aber ernstgemeinten Behauptung begann, es gebe überhaupt nur zwei Filmmusiken, über die zu reden die Mühe lohne: Dmitri Schostakowitschs Musik zu Novyy Vavilon (Das neue Babylon, 1929) und Toru Takemitsus Musik zu Hiroshi Teshigaharas Literaturverfilmung suna no onna (i>Die Frau in den Dünen, 1964). Solch elitärer Skepsis gegenüber dem künstlerischen Wert von Filmmusik als solcher begegnet Cooke mit einem Ansatz, der Filmmusik auf erfrischende Weise nicht den Maßstäben autonomer Höhenkamm-Kunst unterwirft, sondern nach ihrer Rolle im Zusammenspiel mit bewegtem Bild und Sprache, aber auch in den Kontexten ihrer Produktion und ihrer ökonomischen Verwertung fragt.

Cookes Gang durch ein Jahrhundert Film- und Filmmusikgeschichte folgt grob der Chronologie, indem er beim Stummfilmkino beginnt und im Schlusskapitel den "State of the Art", den Status Quo in der Folge des "New Hollywood" der 1970er Jahre schildert. Die Gliederung weicht jedoch zwischenzeitlich auch von der Chronologie ab und lässt so einiges über Cookes Schwerpunktsetzung und seinen speziellen Zugriff erkennen. Der größte Teil des Buchs widmet sich dem anglo-amerikanischen Kino. Das mit Abstand längste Kapitel widmet sich der goldenen Ära des klassischen Hollywood, gefolgt vom Schluss-Kapitel über die Ära des (überwiegend amerikanischen) Post-New Hollywood-Kinos. Der Filmmusik im United Kingdom ist ein eigenes Kapitel gewidmet, zu dem sich weitere Unterkapitel etwa über die Musik in Shakespeare-Verfilmungen oder über "Information films in the United Kingdom" hinzuzählen ließen. Ein eigenständiges Kapitel widmet Cooke daneben einzig dem französischen Kino, andere Filmtraditionen finden sich 'in between' oder im Kapitel "Global Highlights", das auf vielsagende Weise das sowjetische Kino dem indischen und das italienische dem japanischen gegenüberstellt. Erst spät (396ff.) kommt Cooke auf die immense Bedeutung der Popmusik für die Filmmusik seit den 1950er Jahren zu sprechen.

Die Schwerpunktsetzung ist sicher dem Blickwinkel eines in Großbritannien schreibenden Autors geschuldet, spiegelt aber auch so etwas wie einen internationalen Mainstream, zu dem sich das Buch durchaus sympathisch verhält. Nicht ohne Grund stellt Cooke dabei gelegentlich Gegensätzliches auf engstem Raum einander gegenüber. Das indische Bollywood-Phänomen bekommt dieselbe Aufmerksamkeit wie im vorangegangenen Teilkapitel der sowjetische Film bei Eisenstein und Tarkowski, der 'Spaghetti-Western' fast mehr noch als der 'Neorealismo'. Und das Teilkapitel über den Dokumentarfilm und Hanns Eislers Beitrag dazu erhält denselben Raum wie das unmittelbar folgende über die Cartoons. Der Bezug zwischen letzteren wird deutlich, wenn sich Cooke die Pointe nicht entgehen lässt, dass im Tom und Jerry-Film The Cat that Hated People (1947) Theodor W. Adornos und Hanns Eislers anspruchsvolle (und stark am Dokumentarfilm orientierte) Theorie der Filmmusikkomposition nach Hause komme. Die Partitur von Scott Bradley entfalte durch Verwendung und Parodie der Zwölftonkomposition einen Grad des Komischen, der weit über Schönbergs Versuche im Bereich der komischen Oper hinausgehe: "It is a considerable irony of film-music history that the kind of modernism so passionately advocated by Adorno and Eisler found one of its very few outlets in perhaps the most unpretentious and quintessentially entertaining of all motion-picture genres" (298).

Die hier humorvoll gewendete Argumentation gegen den von Adorno / Eisler repräsentierten Typus der Filmmusikanalyse begründet Cooke in einem der wenigen filmtheoretischen Abschnitte ausführlich: Nicht nur beruhe deren Analyse der filmmusikalischen Struktur auf einem Missverständnis ihrer Faktur, ihr Fehler sei vor allem, die musikalische Struktur als autonomes Objekt innerhalb des Filmganzen zu betrachten (83). Cooke schließt demgegenüber vor allem an Claudia Gorbmans Analyse des klassischen Hollywood-Underscorings an, die die spezifische Erscheinungsweise der Musik im Film an ihrer narrativen Funktion und an (paradoxen) Anforderungen wie "Inaudibility" misst (84).

Zu den stärksten Abschnitten des Buchs gehört vor diesem Hintergrund das Kapitel über die Produktionsbedingungen im klassischen Hollywood der 1930er bis 1950er Jahre. Zustimmend zitiert Cooke hier Erwin Panowsky, der den Film 1934 als kommerzielle Kunstform verteidigte und die kollektive Arbeit in den Studios mit der Arbeit an den mittelalterlichen Kathedralen verglich. Auch bei Cookes Schilderung der tatsächlichen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen eines Hollywood-Films wird deutlich, wie wenig man dem Mainstream-Film und seiner Musik mit Kriterien gerecht wird, die dem emphatischen Kunstbegriff mit seinen genieästhetischen, anti-ökonomischen und unterhaltungsfeindlichen Implikationen inhärent sind. Dass damit sein (ästhetischer, kultureller) Wert keineswegs unter dem autonomer Kunst liegen muss, macht Cookes Buch an vielen Stellen deutlich, so wie es auf der anderen Seite deutlich macht, dass nicht alles, was die Studios in ihrer Massenproduktion erzeugen, als gelungen zu betrachten ist. Die ausgewogene und kenntnisreiche Perspektive, die es auf das Phänomen Film einnimmt, sollte auch künftigen Filmmusikgeschichten als Leitschnur dienen.

Im Detail droht die Geschichtserzählung an etlichen Stellen freilich auch von der Last der Materialberge erdrückt zu werden. Dies kann bei der Zahl der berücksichtigten Filme und (nur) 500 Seiten Umfang auch fast nicht anders sein. Eine durchschnittliche Seite enthält mindestens drei Filmtitel, viele deutlich mehr, für die Cooke dann kaum mehr als 2-4 Zeilen oder Sätze zur Verfügung stehen. Passagenweise verfällt der Text in ein atemloses Aufzählen von Ereignissen, Filmtiteln und Daten - die Geschichtserzählung tendiert zum Katalog. Cooke verwendet dabei viel Zeit für die Schilderung der filmhistorischen Kontexte, was wenig Raum für detaillierte filmmusikalische Analyse lässt. Die Charakterisierung der Musik ist oft kaum mehr als Protokoll von Assoziationen: "[Korngold's score The Adventures of Robin Hood] is thoroughly Austro-Germanic, with suggestions of Mahler and Reger audible through the Straussian norm" (96), inflationär gebrauchte Adjektive wie "flamboyant", "colourful" oder "romantic" mögen den gängigen Stereotypen der Filmmusik entsprechen, lassen zu selten jedoch eine differenzierte Untersuchung der Musik folgen.

Cooke stützt sich auf einen breiten Corpus an Fachliteratur (fast ausschließlich aus dem englischsprachigen Bereich), die ausführlich zitiert und paraphrasiert wird, woraus oft die anregendsten Gedanken des Buches hervorgehen. Die History of Film Music ist auf diese Weise auch eine gute und praxisnahe Einführung in die Filmmusikwissenschaft und ihre Theorie.

An einer Stelle bemerkt Cooke, dass das Kino die einzige neue Kunstform sei, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. In seiner Materialdichte lässt A History of Film Music es auf anschauliche Weise greifbar werden, welchen Reichtum und welche Vielfalt die ersten 100 Jahre Film- und Filmmusikgeschichte hinterlassen haben.

Tobias Janz