Wolfgang Wippermann: Skandal im Jagdschloss Grunewald. Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich, Darmstadt: Primus Verlag 2010, 167 S., ISBN 978-3-89678-810-8, EUR 19,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Thorsten Beigel / Sabine Mangold-Will (Hgg.): Wilhelm II. Archäologie und Politik um 1900, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2017
Dominik Petzold: Der Kaiser und das Kino. Herrschaftsinszenierung, Populärkultur und Filmpropaganda im Wilhelminischen Zeitalter, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011
John C.G. Röhl: Wilhelm II., München: C.H.Beck 2013
Nils Freytag: Das Wilhelminische Kaiserreich 1890-1914, Stuttgart: UTB 2018
John C.G. Röhl: Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900, München: C.H.Beck 2001
Jan Andres / Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann (Hgg.): "Nichts als die Schönheit". Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt/M.: Campus 2007
Birte Meinschien: Michael Freund. Wissenschaft und Politik (1945-1965), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2012
Birgit Aschmann: Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrdiskurs im Vorfeld der preußisch-französischen Kriege des 19. Jahrhunderts, München: Oldenbourg 2013
Die Geschichte, die hier im Mittelpunkt steht, ist schnell erzählt. An einem Wintertag im Januar 1891 unternahmen einige Damen und Herren, sämtlich Angehörige der Berliner Hofgesellschaft, eine Schlittenpartie. Danach trafen sie sich im Jagdschloss Grunewald. Vielleicht wurden Tee und Gebäck serviert, vielleicht Champagner und Wein. Die Zeit wird man mit Geplauder hingebracht haben. Über Details sind wir nicht informiert. Seriöse Quellen existieren offenbar nicht, werden jedenfalls von Wolfgang Wippermann nicht beigebracht. Insofern kann von "Skandal" nicht eigentlich die Rede sein. Allerdings begannen kurz darauf Dutzende von Briefen zu kursieren: getragen von Intriganten- und Denunzianteneifer, voller Anspielungen und drastischer Schilderungen, gespickt mit Details über erotische Vorlieben und Praktiken, geschmückt mit - manipulierten - pornographischen Bildern. Adressaten waren Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Treffens, das der Verfasser eine "Party" nennt.
Besonders aufs Korn genommen wurde Graf Friedrich von Hohenau, als Spross einer morganatischen Seitenlinie der Hohenzollern verwandt mit Kaiser Wilhelm II. In der Villa der Hohenaus sollen wüste Orgien gefeiert worden sein, Graf Friedrich seinen homosexuellen, Gräfin Charlotte ihren nymphomanischen Neigungen gefrönt haben. Aus der Causa wurde ein hochnotpeinlicher Kriminalfall. Aus wessen Feder die Schmähungen flossen, konnte jedoch nicht geklärt werden. Der Verdacht richtete sich von Anfang an auf einen Insider. Ins Fadenkreuz der Ermittler geriet rasch der Zeremonienmeister am Hof, Leberecht von Kotze. Auf Geheiß des Kaisers wurde er verhaftet, aber die Militärjustiz, der er überantwortet wurde, musste ihn mangels Beweisen wieder entlassen. Das gegen ihn angestrengte Verfahren endete mit Freispruch. Kotze seinerseits suchte seine Ehre wiederherzustellen, indem er einen seiner Widersacher unter den Höflingen, Carl Freiherr von Schrader, zum Duell forderte, das dieser nicht überlebte. "Selbst die begeistertsten Anhänger des Duells", notierte unter dem 12. April 1896 die Baronin Spitzemberg, "verlieren den Mut zur Verteidigung angesichts eines so schrecklichen und unsinnigen Falles; nichts ist entdeckt, nichts erreicht, nichts gesühnt".
Dass die voraufgegangene intime Schlüssellochguckerei mitsamt den nach oben drängenden schamlosen, unappetitlichen Phantasien die Reputation der kaiserlichen Entourage auf das Schwerste zu beschädigen drohte, war schon den Einsichtigen unter den Zeitgenossen bewusst. Bemühungen, die Angelegenheit unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu traktieren, verfingen allerdings nicht. Dafür dass sie publik wurden, sorgten nicht zuletzt zwei Männer, deren Ruf nicht der beste war und die beide daran interessiert waren, Wilhelm II. und seine Umgebung zu treffen, dabei den Regierungsstil des Kaisers-, die Rückkehr zu autokratischen Prätentionen, "persönliches Regiment" geheißen, zu delegitimieren. Der eine war Fritz Friedmann, der Anwalt von Kotzes, der andere Maximilian von Harden, der Journalist und Herausgeber der Wochenzeitschrift "Die Zukunft", dessen große Zeit nach der Jahrhundertwende mit der Entfesselung des Eulenburg-Skandals freilich erst noch kommen sollte.
Die Geschichte aus dem Intimleben der wilhelminischen Hofgesellschaft, die hier dargeboten wird, ist bereits anderen Ortes mehrfach erzählt worden. Wirklich neue Aspekte kann ihr Wippermann nicht abgewinnen. Auch mag er sich nicht recht entscheiden, was genau denn nun der Skandal gewesen ist: die vermeintliche, nur behauptete 'Sexparty' im Grunewaldschloss, die Schmähbriefe, die Methoden der Aufklärung, die mindestens ebenso sehr Methoden der Verschleierung waren, die Behandlung des zum Sündenbock auserkorenen Leberecht von Kotze oder am Ende gar das Duell als überständige Form eines höfisch feudalen 'Gottesgerichts'. Weil die Geschichte selber nicht besonders weit trägt, hat sie der Verfasser mit allerlei Erwägungen und Weiterungen gerahmt. Diese sind teils naheliegend, teils an den Haaren herbeigezogen. Naheliegend, weil mit dem geschilderten Fall eng verbunden, sind die Bemerkungen über Homosexualität, damals wie noch Jahrzehnte später ein Straftatbestand, der soziale Ächtung zur Folge hatte. Dasselbe gilt von den antisemitischen Ober- und Untertönen, die sich an Kotzes Anwalt Friedmann festmachten, und vom Duellwesen, das mit den Mensuren in den schlagenden Verbindungen der Studenten in Beziehung gesetzt wird.
Hat schon dies wenig mit dem "Skandal im Grunewaldschloss" zu tun, so haben es noch weniger die Hinweise zu Ernst Jünger. Hier bemüht Wippermann Teweleits "Männerphantasien" und entwirft das Konstrukt einer 'neuen' Männlichkeit. Spielte für die alte, die wilhelminische Männlichkeit, der Begriff "Ehre" eine Schlüsselrolle, heißt es da, so für die neue Männlichkeit die Figur des "Kriegers", das Ideal des "soldatischen Mannes", geprägt von homoerotischen Empfindungen und Attitüden, für deren Existenz und Wirksamkeit jedoch Belege nicht geliefert werden, es sei denn, man hält Wilhelm Reich und dessen Theorien für ausreichend.
Wippermanns Buch lebt von windfall profits, schnuppert hier herum und schnuppert dort herum, macht Ausflüge in das weite Feld der Genderhistorie, der Mentalitäts- und Adelsgeschichte, auch der politischen Kulturforschung, bisweilen garniert von einem steil nach oben ragenden pädagogischen Zeigefinger, der dem Leser kein eigenes Urteil zutrauen mag. Das alles ist für die erneute Aufbereitung einer an sich bekannten Geschichte nicht eben viel und wirft gesamthaft wenig an Erkenntnis ab.
Jens Flemming