Roland Schlüter: Calvinismus am Mittelrhein. Reformierte Kirchenzucht in der Grafschaft Wied-Neuwied 1648-1806 (= Rechtsgeschichtliche Schriften; Bd. 26), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, XXXIII + 221 S., ISBN 978-3-412-20607-9, EUR 37,90
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Ziel dieser rechtshistorischen Dissertation ist es, die "besondere Prägung der evangelischreformierten Kirchenzucht im 17. und 18. Jahrhundert als rechtshistorisches Thema" (5) zu untersuchen. Untersuchungsraum ist die Grafschaft Wied-Neuwied, d.h. ein Kleinstaat des Reichs, der durch seine Grenzen mit den geistlichen Territorien Kurtrier und Kurköln besonderen Bedingungen ausgesetzt war. Die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts reformierte Grafschaft erlebte durch die enge Anlehnung an die Kurpfalz und aufgrund ihrer Mitgliedschaft im Wetterauer Grafenverein die konfessionellen Konflikte zwischen Augsburger Religionsfrieden und Westfälischem Frieden hautnah mit, ehe sie 1648 mit der reichsrechtlichen Anerkennung des reformierten Bekenntnisses in ruhigeres Fahrwasser geriet und bis zu ihrer Mediatisierung 1806 konfessionell stabil blieb. Ein wichtiges Ereignis für die Geschichte der Grafschaft gerade unter konfessionellen Gesichtspunkten war die Gründung der Stadt Neuwied 1653. Um mehr Bewohner in die nur langsam wachsende Stadt zu locken, verlieh ihr der Graf 1662 ein Stadtrechtsprivileg, das den Einwohnern von Neuwied zahlreiche Freiheiten garantierte, darunter das auf weitgehende Religionsfreiheit. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lebten sieben verschiedene Religionsgemeinschaften in Neuwied (32). Die an anderen Orten verfolgten Zuwanderer bescherten Neuwied mit ihrer Expertise in verschiedenen Bereichen eine wirtschaftliche Blüte und verhalfen der Stadt zu einer vergleichsweise frühen Industrialisierung.
Großen Einfluss auf die Thesenbildung der Arbeit hat die Schilderung eines Vorfalls aus dem Jahr 1546: Die Bewohner des Grenzdorfes Kurtscheid entzogen sich im Kontext der Einführung der Reformation dem konfessionellen Zugriff ihres Landesherrn, in dem sie ihre Häuser abrissen und hinter der kurkölnischen Grenze wieder aufbauten. Daraus entwickelt der Autor die gewagte These, dass eine besondere Milde und Nachsicht in Fragen der Kirchenzucht nötig gewesen sei, weil die Untertanen wegen der nahen Grenzen zu Kurköln und Kurtrier die Möglichkeit hatten, "die Grafschaft ohne größere Probleme zu verlassen" (8).
Die Einleitung enthält zudem Überlegungen zu Kleinstaaten im Reich, die nicht zu überzeugen vermögen. Dass in Kleinstaaten die Vollzugsdefizite größer waren als im verwaltungstechnisch weiter entwickelten "Großterritorium" muss hinterfragt werden, ebenso die Auffassung des Autors dass religiöse Toleranz eine "Besonderheit reformierter Territorien" gewesen sei. Mehr als irritierend ist, dass ein Ausspruch Friedrichs II. von Preußen als Beschreibung des Ist-Zustandes im 18. Jahrhundert interpretiert wird und der Autor allem Anschein nach der Auffassung ist, dass in Preußen wirklich jeder "nach seiner Facon selig werden" konnte. Ähnlich unpräzise sind die Auffassung des Autors zur Problematik des Einflusses der Aufklärung, was in Sätzen wie: "Das Normengefüge der Reformation geriet spätestens mit Anbruch der Aufklärung im 18. Jahrhundert ins Wanken" (12) oder Formulierungen wie "Toleranz als Gebot der Stunde" ( 12) oder "Geist der Aufklärung" (16) zum Ausdruck kommt.
In Teil 2 der Arbeit (Theorie und Praxis des wiedischen Kirchenrechts) werden hingegen in Kapitel A die Friktionen zwischen dem calvinistisch-reformiertem Kirchenaufbau und dem landesherrlichen Kirchenregiment der deutschen protestantischen Territorien sehr luzide dargestellt. Mit Kapitel B erfolgt allerdings eine Verengung der Kirchenzuchtsproblematik auf das Eherecht. In diesem - von der Überschrift her normativ ausgelegten - Kapitel werden einige Ehegerichtsprozesse dargestellt, um im Fazit schließlich festzuhalten, dass es im Interesse der Obrigkeit lag, "wirtschaftlich tragfähige Ehen zu fördern" (130). Dies deutet auf ein Strukturmerkmal des gesamten Buches hin: Die Gliederung des Buches ist nicht durchdacht. Dafür spricht, dass erst in Kapitel C des Teils 2 Ausführungen zur Ämter- und Behördenstruktur zu finden sind, deren Kenntnisse zum Verständnis der Ausführungen über die Eheprozesse unabdingbar gewesen wären. Insbesondere die Feststellung über die weitreichenden Kompetenzen des Konsistoriums zusammen mit der "Personenidentität" (172) von geistlichen und weltlichen Beamten sind eine für die Fragestellung des Buches unverzichtbare Information, ohne die keine angemessene Bewertung der Kirchenzuchtsproblematik vorgenommen werden kann. Damit bekommen auch die bereits 100 Seiten zuvor angestellten Überlegungen, ob die Kirchenbuße eher kirchliche Sanktion oder weltliche Strafe gewesen sei, ein Fundament. Deutlich zeigt sich, dass die Kirchenbuße in der Grafschaft Wied-Neuwied weltliche Strafe war, da sie in den weltlichen Instanzenzug integriert wurde. Die Kirchenbuße wurde für die Ersttat, weltliche Strafen im Wiederholungsfall verhängt (55); zu Recht konstatiert der Verfasser daher die "zwangsläufige Vermischung" von geistlichen und weltlichen Strafen (58).
Nach kurzen Ausführungen zur Visitation als Herrschaftsinstrument (Kapitel D) folgt Kapitel E (überschrieben "Kirchenzuchtsprozesse"), dessen Untergliederung an keiner Stelle nachvollziehbar ist: Unterkapitel I informiert darüber, dass nach den Eheprozessen nun Verfahren zu Sittendelikten vorgestellt werden sollen. Kapitel II präsentiert fünf solcher Prozesse, die Überschrift (Insellage und grenzüberschreitende Mobilität) irritiert aber ebenso wie die zum Folgekapitel III (Merkantilistische Wirtschaftsordnung), das sich mit zwei Beispielen den Delikten Inzest und Vergewaltigung widmet. Dasselbe gilt für die Überschrift "Öffentlicher Druck" für Kapitel IV, bei der der Fall einer Rufmordkampagne noch unter die Überschrift zu passen scheint, das Fallbeispiel eines Verfahrens wegen Konkubinat aber auch auf den zweiten Blick nicht. In keinem der Kapitel wird die Wahl der Überschrift erläutert.
Das Fazit des Buchs ist hingegen von allgemeinem Interesse: Der Verfasser hält fest, dass das reformierte Bekenntnis in der Grafschaft Wied-Neuwied obrigkeitlich überformt war: Aufgrund der obrigkeitsstaatlichen Struktur musste "auf wesentliche Elemente der Genfer Kirchenverfassung" verzichtet werden (207). Die reformierte Kirche in den niederrheinischen Herzogtümern Jülich-Berg und Kleve zeigte demgegenüber andere Strukturen, so dass der Verfasser die Kirchenverfassung der Grafschaft Wied-Neuwied als "rechtshistorisch für das Rheinland untypisch" bezeichnet. Die heutige presbyterial-synodale Struktur der Evangelischen Landeskirche im Rheinland lässt sich seiner Bewertung nach in erster Linie auf die historische Entwicklung in den evangelisch-reformierten Gemeinden am Niederrhein zurückführen. Ein Erklärungsversuch, warum es zu dieser unterschiedlichen Entwicklung im Rheinland gekommen ist, findet sich bedauerlicherweise nicht.
Der Verfasser hat eine Dissertation vorgelegt, die einige wichtige rechtshistorische Beobachtungen enthält. Diese sind allerdings in einem wirr gegliederten Buch versteckt, so dass zu hoffen bleibt, dass der Verfasser seine wichtigsten Ergebnisse in einem dichten Aufsatz in einer Fachzeitschrift leichter und schneller zugänglich machen wird. Ärgerlich ist, dass der Verfasser mit einem Alltagsverständnis von Aufklärung arbeitet, das auch einem Juristen nicht verziehen werden kann. Zahlreiche kompakte neuere Darstellung hätten hier "Aufklärungs"arbeit leisten können.
Helga Schnabel-Schüle