Michael Hagner: Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2010, 280 S., ISBN 978-3-518-42204-5, EUR 19,90
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Der Hauslehrer Andreas Dippold wurde am 10. März 1903 in Drosendorf, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bayreuth, verhaftet, nachdem er einen seiner Zöglinge zu Tode geprügelt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Dippold die beiden elf und dreizehn Jahre alten Söhne des Berliner Bankiersehepaars Koch bereits über ein Jahr unterrichtet. Den Eltern galt der ehrgeizige Jurastudent ohne pädagogische Ausbildung und, wie sich nun zeigte, Befähigung, lange als der ideale Lehrer. Nur er schien in der Lage, ihre von verschiedenen Schulen und Internaten relegierten Söhne in die Bahnen einer bürgerlichen Existenz zurückzulenken. Als Ursache für das Schulversagen der beiden Jungen machte der Hauslehrer im Einklang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit einen obsessiven Hang zur Onanie aus. Um diesen zu bekämpfen, errichtete er ein tyrannisches Regiment aus ständiger Kontrolle, umfassender Disziplinierung und körperlicher Ertüchtigung. Da er die Großstadt und ihre Verführungen mitverantwortlich machte, zog Dippold mit seinen Zöglingen zunächst auf den Landsitz der Eltern, dann in deren Hütte in Bayern, wo es schließlich zur Katastrophe kam.
Nach seiner Verhaftung wurde Dippold in Bayreuth vor Gericht gestellt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die wilhelminische Presse bereits auf den Fall gestürzt, der sich schnell zum Sensationsprozess entwickelte. Doch nicht nur die Zeitungen, auch die Humanwissenschaften, allen voran Kriminologie, Psychiatrie und Sexualwissenschaft, nahmen von Beginn an regen Anteil - teils, weil ihre Expertise gefragt war, teils aus eigennützigen Motiven. Das Gericht verurteilte Dippold zu fünfzehn Jahren Zuchthaus. Doch die wissenschaftliche Diskussion ging weiter. Sie schuf einen neuen psychopathologischen Typus: den sadistischen Lehrer, der seine Schüler aus sexuellem Lustempfinden quält und züchtigt. Aus dem Individuum Andreas Dippold wurde die Diagnose 'Dippoldismus', ein Fachbegriff, der in alle Lehrbücher einging und sich sogar noch in der aktuellen Ausgabe des Pschyrembel Wörterbuch Sexualität findet.
Mit Der Hauslehrer, der ersten wissenschaftlichen Untersuchung zum Dippold-Skandal, ist dem Wissenschaftshistoriker Michael Hagner ein großer Wurf gelungen: eine brillant geschriebene Fallstudie mit Zügen eines Krimis, die zugleich Wissenschaftsgeschichte auf höchstem Niveau bietet. Hagners bereits von vielen Tageszeitungen besprochenes Buch zeigt, dass Geschichte auch abseits von Biographien oder Reizthemen wie dem Nationalsozialismus große Leserkreise erreichen kann. Schon 2008 hat die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet. Nun zeigt Hagner, dass er nicht nur ein Meister der wissenschaftlichen, sondern auch der populärwissenschaftlichen Prosa ist und dies auf einem Gebiet, bei dem von Popularisierung bislang kaum zu sprechen war.
Der Hauslehrer rekonstruiert in den ersten drei Kapiteln weitgehend chronologisch die Vorgeschichte bis zum Tod des Schülers, die Ermittlungszeit und den Prozess. In diesen minutiös recherchierten und spannend erzählten Kapiteln wirft Hagner immer wieder Köder für eine breite historische Kontextualisierung aus. Diese holt er dann gekonnt in den beiden folgenden Kapiteln über den "Skandal und die Medien" und den "Nutzen und Nachteil der Humanwissenschaften" ein. Auf diese Weise verbindet Hagner auf kongeniale Weise, was als eigentlich unvereinbar galt: die Mikrogeschichte Carlo Ginzburgs und die Diskursanalyse Michel Foucaults.
Hagners über den Gegenstand des Buches hinausweisende Skandaltheorie ließe sich auch auf andere Fälle anwenden und ist ein innovativer Beitrag zur Forschung über Skandale im Kaiserreich und darüber hinaus. [1] Auch das letzte Kapitel eröffnet eine weiterreichende Perspektive. Wie Hagner zeigt, begann die Stilisierung Dippolds zu einer "sexuellen Bestie" (168) in den Medien. Fern davon dieses Konstrukt, das Hagner mit Paul Ricœur als "narrative Identität" (168) versteht, zu hinterfragen, übernahmen die Humanwissenschaften diese Deutung und spannen sie zum wissenschaftlichen Konzept aus. Fast allen beteiligten Forscherpersönlichkeiten weist Hagner die Verletzung wissenschaftlicher Standards nach. Selten ging es ihnen um die Wahrheit, immer aber um Diskurshoheit. So verteidigte der Arzt Auguste Forel seinen Schüler Oskar Voigt, der Heinz Koch wenige Monate vor dessen Tod untersucht hatte, um Schaden von diesem und sich selbst abzuwenden. Besonders kritisch sieht Hagner, dass viele Wissenschaftler Dippold allein auf Grundlage von Zeitungsberichten beurteilten, ohne ihn je persönlich befragt oder untersucht zu haben.
Hagners Angriff auf die Humanwissenschaften, bei dem er allein die Psychologie ausklammert, ist ebenso überzeugend wie niederschmetternd. Dennoch ist Hagners Urteil in zweierlei Hinsicht zu relativieren. Eine umfassendere Würdigung der wilhelminischen Humanwissenschaften müsste deren unbestrittene Verdienste, beispielsweise bei der Liberalisierung der Sexualmoral und der Entkriminalisierung der Homosexualität, einbeziehen. Gleichzeitig ließe sich Hagners Kritik noch verschärfen. Wie auf Krankenakten der Berliner Charité basierende Studien zeigen, hinderte die persönliche Untersuchung seiner Patientinnen und Patienten kaum einen Arzt daran, diese als sexuell und sozial deviant einzustufen und ihnen eine abstrakte Diagnose überzustülpen: das Narrativ war immer stärker als das Individuum. [2]
Sehr viel weniger explizit, jedoch nicht weniger vernichtend ist die Kritik am "selbstbewussten und stolzen deutschen Bürgertum der Jahrhundertwende" (7), die sich aus Hagners Buch ableiten lässt. Sie ist eine notwendige Korrektur der Bürgertumsverklärung Bielefelder und Frankfurter Provenienz. Hagner konfrontiert den 'bürgerlichen Wertehimmel' mit dessen teuflischen Konsequenzen. "Arbeit als Zweckbestimmung des Menschen" (24), die bürgerliche "Aufgaben- und Habitusverteilung" (31) zwischen den Geschlechtern und die vielgerühmten Werte "Selbstdisziplin, Bildung, Pflichterfüllung und Fleiß" (32) führen hier direkt in eine Hölle. Das deutsche Bürgertum tritt uns entgegen als ein Panoptikum aus abwesenden Vätern, hilflosen Müttern, überforderten Kindern, autoritätsgläubigen Eltern, tyrannischen Lehrern, opportunistischen Journalisten und skrupellosen Wissenschaftlern.
Als kritischer Blick auf die Verschränkung von Wissenschaft und Medien und die Verletzung des wissenschaftlichen Ethos kommt Der Hauslehrer zu rechten Zeit, auch wenn Hagner auf die aktuellen Skandale, an die sich die Leserinnen und Leser unweigerlich erinnert fühlen, nur en passant in einer Fußnote verweist. Als mahnendes Beispiel für die Wichtigkeit wissenschaftlicher Redlichkeit sollte Hagners Buch Pflichtlektüre jedes Propädeutikums sein, denn Der Hauslehrer ist in der Tat ein "düsteres Lehrstück" (39).
Anmerkungen:
[1] Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914. München 2009 und Norman Domeier: Der Eulenburg-Skandal: Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs. Frankfurt am Main 2010.
[2] Beginnend mit Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München 1998 bis zu den aktuellen Untersuchungen der DFG-Forschergruppe 1120, Kulturen des Wahnsinns. Schwellenphänomene der urbanen Moderne (1870-1930).
Tobias Becker