Philipp Gassert / Tim Geiger / Hermann Wentker (Hgg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Sondernummer), München: Oldenbourg 2011, 410 S., ISBN 978-3-486-70413-6, EUR 59,80
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Der Kalte Krieg ist Geschichte, und in den letzten Jahren gab es verschiedene Versuche, auch die Grundannahmen dieses Systemkonfliktes zu historisieren. Besonders kontrovers waren im Kalten Krieg immer Debatten, in denen es um "Frieden" ging, handelte es sich doch bei dem Konzept nicht nur um den Slogan westdeutscher sozialer Bewegungen, sondern auch um ein Wort aus dem Bestand der Propaganda der sozialistischen Länder. In Ansätzen ist die Organisationsgeschichte der Friedensbewegungen schon recht gut erforscht, wenn auch vor allem aus sozialwissenschaftlicher Perspektive und sehr oft auch ohne Zugriff auf die relevante Überlieferung in Bewegungsarchiven. [1]
Deshalb haben sich die drei Herausgeber dieses Bandes, der auf eine Konferenz aus Anlass des dreißig-jährigen Jahrestages des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 zurückgeht, auch wesentlich ehrgeizigere Ziele gesetzt, als eine Aneinanderreihung von Fallstudien aus verschiedenen Ländern zusammen zu bringen. Sie verstehen ihren Band vor allem als Beitrag, welcher die Debatten über Krieg und Frieden der späten siebziger und frühen achtziger Jahren in allgemeinere politische und gesellschaftliche Trends der Jahre "nach dem Boom" einordnen soll. Dabei verwerfen sie in einer beeindruckenden und weit ausgreifenden Einleitung zwei zeitgenössische Interpretamente als wenig tragfähig: zum einen die Deutung, die Debatten über den NATO-Doppelbeschluss als Symptome des Zusammenbruchs eines transatlantischen sicherheitspolitischen Konsenses zu deuten; zum anderen eine Sicht, welche das Entstehen von Friedensbewegung als Resultat einer verfehlten Entspannungspolitik betrachtet und somit die Friedensbewegungen gerechtfertigte Träger von entspannungspolitischem Denken sieht. Stattdessen möchten die Herausgeber den politischen und gesellschaftlichen Kontext der Debatten neu justieren. Sie streben eine "gesellschaftsgeschichtliche Synthese" an, welche die Debatten über Krieg und Frieden im Gefolge des NATO-Doppelbeschlusses als "Symptom innerer Krisenwahrnehmungen und -verarbeitungen" (11) in den verschiedenen Gesellschaften begreift. Sie versuchen damit Anschluss an die jüngeren Debatten über den Charakter des politisch-gesellschaftlichen Wandels seit den siebziger Jahren herzustellen. Diese Fragestellung möchten sie verbinden mit einer Internationalisierung des Forschungsansatzes: also die Einbettung der (bundes-) deutschen Vorgänge in den Kontext internationaler Politik, aber auch die transnationalen Beziehungen. In diesem Zusammenhang erscheint die Debatte über die Integration des "Warschauer Paktes" in den achtziger Jahren - und damit auch das Entstehen unabhängiger Friedensgruppen in der DDR - als Äquivalent der bundesdeutschen Entwicklungen, auch wenn sie freilich unter ganz anderen politischen Bedingungen stattfand.
Einige der besten Beiträge des Bandes zeigen, was durch eine Neuinterpretation des Konfliktes mit Hilfe neu zugänglicher Quellen erreicht werden kann. Es seien hier nur die wichtigsten herausgegriffen. Philipp Gasserts exzellenter Beitrag über den NATO-Doppelbeschluss "als Katalysator gesellschaftlicher Selbstverständigung" (175) liest sich fast wie eine zweite Einleitung und bietet die kluge Formulierung eines ganzen Forschungsprogramms. In einer breiten Zusammenschau ganz verschiedener bundesdeutscher Debatten zeigt Gassert, wie sich an die Diskussionen über den NATO-Doppelbeschluss grundsätzliche Fragen von politischer und gesellschaftlicher Ordnung anlagerten. Er betont, dass das Ergebnis nicht etwa ein Zusammenbruch, sondern die Verstärkung eines bundesrepublikanischen und transatlantischen Sicherheitskonsenses war (201). Gasserts Beitrag wird sinnvoll ergänzt durch die fast durchweg auf hohem Niveau argumentierenden Beiträge zu den Wechselwirkungen zwischen Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik und anderen Staaten der westlichen Allianz, also dem was Andreas Rödder in seinem fleißigen und ausgewogenen Beitrag als die "Innenseite der Außenpolitik" (123) bezeichnet. Besonders Tim Geigers Kapitel zur Politik der Regierung Schmidt-Genscher und Leopoldo Nutis konziser Beitrag zu den Debatten in der italienischen Politik und Gesellschaft schöpfen das innovative Potenzial einer solchen neuen Politikgeschichte voll aus. Beatrice Heusers und Kristan Stoddarts Überblick über die britischen Debatten bietet eine ähnlich gute Zusammenfassung, auch wenn man sich eine genauere Einbettung der Campaign for Nuclear Disarmament in den gesellschaftlichen Kontext gewünscht hätte. Die dicht aus den Quellen gearbeiteten Beiträge von Friedhelm Boll und Jan Hansen zur SPD und von Saskia Richter zu den Grünen zeigen ebenfalls beispielhaft, was durch eine neue Perspektive erreicht werden kann. Anja Hanischs luzide argumentierender Beitrag zum politik-und gesellschaftsgeschichtlichen Kontext der Entstehung unabhängiger Friedensgruppen in der DDR führt vor Augen, wie viel der in der Einleitung von den Herausgebern formulierte Anspruch auch für Länder östlich des "Eisernen Vorhangs" bringen kann. Wilfried Mausbachs umsichtig aus Bewegungsarchiven geschöpfter Beitrag zu den transnationalen Beziehungen zwischen der amerikanischen und den westeuropäischen Beiträgen führt auf exzellente Art und Weise vor Augen, dass die Geschichte von Friedensbewegungen weit mehr sein kann als die Geschichte von Bewegungsorganisationen.
Einige der Beiträge dagegen haben sich nicht wirklich an die Vorgaben der Herausgeber gehalten, neue Interpretationsansätze zur Geschichte des NATO-Doppelbeschlusses zu formulieren. Michael Ploetz bietet eine Fundamentalkritik an der Politik Jimmy Carters, welche die Gefahr der sowjetischen Politik, der es "um nichts Geringeres als eine Revolution der diplomatischen Beziehungen" gegangen sei (47). Gerhard Wettig und Helge Heidemeyer präsentieren ihre schon bekannten Thesen über die nach ihrer Ansicht erfolgreichen Versuche der Sowjetunion respektive DDR, die westlichen Friedensbewegungen zu unterwandern, ohne den angeblichen Erfolg allerdings systematisch aus den Bewegungsarchiven nachzuweisen und gesellschaftsgeschichtlich zu verorten. Letztlich reproduzieren diese Beiträge zeitgenössische Bedrohungsvorstellungen - Andreas Rödder bezeichnet solche Interpretationen in seinem Beitrag als "hoch ideologisch aufgeladene Angstvorstellung[en]" (129).
Was also bleibt von dem Anliegen der Herausgeber, das Terrain der Debatten zum NATO-Doppelbeschluss neu zu vermessen? Nicht alle Kapitel vermögen in interpretatorischer Hinsicht zu überzeugen. Dennoch lässt sich resümieren, dass der Band damit die Forschungen zum NATO-Doppelbeschluss und zu den Debatten über Nuklearwaffen in den siebziger und achtziger Jahre auf eine neue Grundlage stellt: er führt beispielhaft vor Augen, wie eine neue Forschung zur Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges aussehen könnte - und der innovative Charakter dieser Beiträge wird auch und gerade durch den Kontrast zwischen den innovativen Kapiteln und jenen Beiträgen, welche die Debatten der achtziger Jahre in die Gegenwart fortschreiben möchten, umso deutlicher. Obwohl der Band deshalb sein Potenzial in seiner Gesamtheit nicht voll ausgeschöpft hat, zeigt er mit einigen der exzellenten Einzelbeiträge, wie eine Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges, die sich um die Debatten über "Frieden" und "Krieg" gruppiert, aussehen könnte.
Anmerkung:
[1] Siehe z. B. Werner Kaltefleiter / Robert L. Pfaltzgraff (eds.): Peace Movements in Europe and United States, London 1985 und Karl-Werner Brand (Hg.): Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt/M. 1985.
Holger Nehring