Rezension über:

Ernst Seidl (Hg.): Politische Raumtypen. Zur Wirkungsmacht öffentlicher Bau- und Raumstrukturen im 20. Jahrhundert (= Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft; Bd. 11/2009), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 175 S., ISBN 978-3-89971-712-9, EUR 22,50
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Rezension von:
Jörg Stabenow
Lehrstuhl für Kunstgeschichte / Bildwissenschaft, Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Stabenow: Rezension von: Ernst Seidl (Hg.): Politische Raumtypen. Zur Wirkungsmacht öffentlicher Bau- und Raumstrukturen im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/10/18286.html


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Ernst Seidl (Hg.): Politische Raumtypen. Zur Wirkungsmacht öffentlicher Bau- und Raumstrukturen im 20. Jahrhundert

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Zu den großen Vorzügen des Raumbegriffs gehört seine disziplinenübergreifende Anschlussfähigkeit. Die Frage nach dem Raum und seinen Bedeutungen ist für Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften gleichermaßen relevant. Der von Ernst Seidl herausgegebene Sammelband bietet Kunsthistorikern, Historikern, Soziologen und Architekten die Gelegenheit, Modelle für die Interpretation räumlicher Phänomene zu entwickeln. Dabei bildet das 20. Jahrhundert den chronologischen Rahmen, der jedoch von zahlreichen Autoren großzügig erweitert wird.

In einem einleitenden Beitrag umreißt der Herausgeber das Konzept des 'politischen Raumtyps', das dem Buch seinen Titel gibt. Die Wortverbindung erweitert den Raumbegriff in zwei Richtungen. Zum einen wird postuliert, dass Räume sich nach Typen klassifizieren lassen. So wie Seidl es in seinem innovativen 'Lexikon der Bautypen' für architektonische Einzelobjekte demonstriert hat [1], sollen auch räumliche Tatbestände gemäß ihrer Form und Aufgabenstellung nach typologischen Kriterien diskutiert werden. Zum anderen geht es um das Problem, auf welche Weise Räume als Träger politischer (oder kultureller, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher) Inhalte gedeutet werden können. Solche Bedeutungen sollen nicht nur fallweise, sondern auch im Blick auf wiederkehrende Raumtypen analysiert werden. Am Horizont steht somit das anspruchsvolle Ziel einer "Ikonologie des Raums", die in der Lage ist, Konstanten der Raumbildung und Bedeutungskonstanten miteinander zu verknüpfen.

Die Frage nach dem Verhältnis von gebautem Raum und politischen Inhalten beantwortet Heike Delitz aus der Perspektive der Soziologin. Dabei geht sie davon aus, dass Bauten sich nicht darauf beschränken, soziale Tatbestände lediglich zu repräsentieren. Architektur ist nicht nur die mehr oder weniger aussagekräftige Verpackung gesellschaftlicher Institutionen, sondern wird selbst zum Medium des Sozialen: Die Formungen des Raums haben Anteil an politischen Prozessen und wirken direkt auf die Bewusstseinsbildung von Gesellschaften ein. Anhand zweier konträrer Gesellschaftsmodelle - des klassischen Athen und der nordafrikanischen Tuareg - veranschaulicht Delitz ihr Verständnis einer sozial konstitutiven Architektur.

Wer im Städtebau des 20. Jahrhunderts nach klar fassbaren politischen Bedeutungen sucht, wird vor allem in der Staatsarchitektur der Diktaturen fündig. So behandelt Steffen Krämer ein prägendes Element des Stadtumbaus unter dem NS-Regime, die monumentale Straßenachse. Als politisches Movens der Achsenplanungen identifiziert er "das Handlungsprinzip des Aufmarschs uniformierter Massen", das die Ausrichtung der Gesellschaft auf ein einziges Marschziel erzwingen möchte. In den realisierten und geplanten Monumentalstraßen erhält der ritualisierte Aufmarsch seinen architektonisch definierten Schauplatz. Noch im Leerzustand vermögen die Straßenachsen das Bild einer militarisierten Masse aufzurufen. Die Bewegung ritualisierter Kundgebungen spielte auch in der Planungspraxis der DDR, mit der sich Kay Richter am Beispiel der Stadt Chemnitz beschäftigt, eine wesentliche Rolle. Seit den 1950er Jahren gehörte im sozialistischen Deutschland ein 'Demonstrationsplan' zum Instrumentarium der städtebaulichen Planung. 'Magistrale', 'zentraler Platz' und 'Haus der Kultur' bezeichneten Verlauf und Zielpunkt der Demonstrationen. Die politische Konnotation des Stadtraums erfolgte durch inszenierte Bewegungsabläufe und durch die Zweckbestimmung der dominierenden Bauten, die zumeist gesellschaftlichen Funktionen dienten.

Dass die Zuschreibung politischer Bedeutungen zeitlichem Wandel unterliegt, verdeutlichen die Beiträge von Martin Engel über die Rezeptionsgeschichte des Berliner 'Forum Fridericianum' - des heutigen August-Bebel-Platzes - und von Andreas Nierhaus über das Kaiserforum in Wien. Die nachträgliche Instrumentalisierung der Berliner Platzanlage, die sich in zahlreichen Umgestaltungen niederschlug, lebte stets vom historischen Rückbezug auf den Bauherrn Friedrich II. Der Wiener Forumskomplex entstand als ein Raumsymbol, das die Hegemonie des Kaiserhauses zur Darstellung bringen und dem habsburgischen Vielvölkerstaat eine ideelle Mitte geben sollte. Nur selten wurde dieser Raum für öffentliche Festveranstaltungen genutzt. Erst nach dem Ende der Monarchie erlebte der Heldenplatz unter wechselnden Vorzeichen seine Aktivierung als politischer Handlungsraum. Gegenüber den realen Funktionen überwog die ideelle Dimension des unvollendeten Platzraums, die vor allem durch zeitgenössische Schaubilder vermittelt wurde. Nierhaus erkennt hierin eine Medialisierung des politischen Raums, die auf eine gesteigerte Bildwirkung setzt.

Nicht nur Straßenachsen und Plätze, sondern auch größere städtebauliche Areale lassen sich mithilfe des Raumbegriffs erfassen. Zwei Beiträge widmen sich den politischen Implikationen der Siedlungsplanung. Marcus Termeer befragt konservative Siedlungskonzepte zwischen Heimatschutz und NS-Architektur - exemplifiziert an Planungen von Paul Schmitthenner und Gustav Wolf - im Hinblick auf ihre disziplinierende Wirkung. Die Ordnungen des Raums, die Wahl der architektonischen Modelle, die Uniformierung der Einzelbauten sind in dieser Perspektive Instrumente der Disziplinierung und Machtausübung. Allerdings beeinträchtigt die Verengung des Blickwinkels auf politisch 'rechts' konnotierte Planungskonzepte die Tragweite der Diagnose. Vermutlich ergäbe eine Betrachtung progressiver Siedlungsplanungen - etwa eines Bruno Taut oder Walter Gropius -, dass dort mit ebenso wirksamen Instrumenten der Disziplinierung gearbeitet wurde. Irene Nierhaus erörtert dagegen das Thema der Wohnsiedlung im Kontext des Wiederaufbaus nach 1945. Dabei interessiert sie sich besonders für das Phänomen einer "Verlandschaftlichung" des Wohnens und für die Grünflächen, die den neu errichteten Wohnbebauungen unterlegt wurden. Das allgegenwärtige Grün interpretiert sie als Versprechen einer 'organischen' Neufundierung der Gesellschaft im Angesicht der 'Stunde Null'.

Der Band versammelt ein breites Spektrum stadträumlicher Formbildungen und erschließt zugleich eine Vielzahl von Möglichkeiten des methodischen Zugriffs. Nicht immer stehen die behandelten Fälle für klar umrissene städtebauliche 'Typen', nicht immer lassen sich den untersuchten Raumgebilden sicher benennbare Inhalte zuweisen. Ebenso wie die Formen sind auch die Bedeutungen urbaner Räume permanenten Veränderungsprozessen unterworfen. Die politische Signifikanz stadträumlicher Strukturen konkretisiert sich in ihrer performativen Aneignung wie auch in ihrer medialen Vermittlung und Inszenierung. Städtebaulicher und gesellschaftlicher Raum durchdringen einander und bedingen sich wechselseitig. Die Fülle der angebotenen Deutungsperspektiven macht dieses Buch nicht nur für Stadtforscher zu einer anregenden und bereichernden Lektüre.


Anmerkung:

[1] Ernst Seidl (Hg.): Lexikon der Bautypen. Funktionen und Formen der Architektur, Stuttgart 2006.

Jörg Stabenow