Anne Sudrow: Der Schuh im Nationalsozialismus. Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich, Göttingen: Wallstein 2010, 876 S., 98 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-0793-3, EUR 69,90
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Die Geschichte eines Alltagsgegenstandes für den Zeitraum eines Vierteljahrhunderts zu lesen, erscheint auf den ersten Blick eine recht langweilige Angelegenheit zu sein. Dass dies nicht so sein muss, beweist das Werk von Anne Sudrow eindrucksvoll. Anhand des Untersuchungsgegenstandes "Schuh" gelingt es der Verfasserin, verschiedenste historische Fragestellungen für die Jahre 1925 bis 1950 zu erforschen.
Ihre 2009 an der TU München eingereichte Dissertationsschrift ist keine klassische Technikgeschichte, sondern integriert vielmehr historische Fragestellungen aus den Bereichen "Politik und Alltag, Wirtschaft, Technik und Wissenschaft" (12). Sudrow fragt dabei nach dem "Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus und Modernisierung" (16), nach der Veränderung von Produkten durch die NS-Autarkie- und Wirtschaftspolitik (19), nach den "modernen' Elemente[n] des Nationalsozialismus" (24), nach der Entwicklung des Industriedesigns (25) und der Mode (27) und nach relevanten "Wissensformen für die Entwicklung des Schuhs als Industrieprodukt" (29). Zudem möchte die Verfasserin dazu beitragen, das Forschungsdesiderat des Konsums und der Konsumpolitik im Nationalsozialismus zu schließen (13). Als Untersuchungsgegenstand eignet sich der Schuh hierzu besonders, da er sowohl Konsum- als auch Rüstungsgut war (12). Eingebettet ist ihre Studie in einen Vergleich mit der Entwicklung des "Schuhs" in den USA und Großbritannien, die zusammen mit dem Deutschen Reich die größten Schuherzeugerländer der Welt waren. Methodisch untersucht Sudrow in einer "Historischen Produktlinienanalyse" (34ff) den Lebenslauf des Schuhs von der Rohstoffgewinnung über Produktion, Vertrieb und Gebrauch bis hin zu Reparatur und Verwertung (34). Die Studie schöpft dabei aus einem reichen Fundus von Quellen und Literatur. So hat die Verfasserin nicht weniger als 20 Archive durchforstet, zahlreiche Gewerbe- und Fachzeitschriften ausgewertet und in den drei Ländern Schuhsammlungen als Objektquellen konsultiert.
Die sich in vier chronologische Teile gliedernde Studie behandelt in insgesamt zwölf Hauptkapiteln die verschiedenen Felder der Produktlinie wie Gebrauch, Kauf, Mode etc. Alle Kapitel enden mit einem Zwischenfazit. Der erste Teil von Sudrows Arbeit beschäftigt sich mit der Geschichte des Schuhs zwischen 1925 und 1933 - eine mit 180 Seiten sehr umfangreiche Hinführung zum eigentlichen Untersuchungszeitraum. Die beiden Teile zur NS-Zeit nehmen vor allem das Material, den Verbrauch und die Wiederverwertung sowie die Verwissenschaftlichung und Erforschung des Schuhs in den Blick. Der vierte Teil ist dem Vergleich der Kriegswirtschaft in Deutschland, Großbritannien und den USA sowie dem Technologietransfer nach Kriegsende gewidmet.
Welch ein weit über das eigentliche technikgeschichtliche Objekt "Schuh" hinausgehende Feld eine integrative Produktgeschichte zu untersuchen vermag und welche Möglichkeiten ein solcher Ansatz bietet, zeigen etwa die Kapitel auf, in denen der Zusammenhang zwischen der Fußbekleidung und der NS-Expansions- und Rassenpolitik deutlich wird: So kam es beispielsweise nach dem Überfall auf die Sowjetunion zu regelrechten "Raub- und Beutezügen" (286) bei der Beschaffung von Rohhäuten, die für die Lederverarbeitung im Deutschen Reich benötigt wurden. Auch der osteuropäische Viehbestand wurde von den deutschen Rohstoffexperten unter dem Gesichtspunkt des Lederbedarfs und nicht der Bevölkerungsernährung betrachtet (293). Zugleich ließ die SS die Schuhe der Ermordeten aus den Ghettos und Vernichtungslagern zur Aufbereitung in die Konzentrationslager im Reich transportieren (605ff). Die Altschuhe wurden dann entweder als Arbeitsschuhe an Industriebetriebe gegeben oder zur Rohstoffgewinnung zerkleinert (614).
Den engen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und dem Terror des NS-Regimes macht die - von Sudrow erstmals wissenschaftlich erforschte - Gebrauchswertforschung im KZ Sachsenhausen deutlich. 1940 wurde dort eine "Schuhprüfstrecke" errichtet, mit deren Hilfe die deutsche Schuhindustrie die Qualität von Schuhen und neue Materialien testen konnte (488). Die als Testpersonen missbrauchten KZ-Häftlinge "wurden für die Versuche gesundheitlich zu Grunde gerichtet" (525) - viele starben an den Torturen im "Schuhläuferkommando". Die teilweise von den Unternehmen in eigener Verantwortung durchgeführten Experimente im KZ Sachsenhausen dienten nicht der Verbesserung von Rüstungs- sondern von Konsumgütern (588). Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse fanden nach 1945 Eingang in die Forschung, ohne dass die menschenverachtenden Umstände ihres Zustandekommens thematisiert wurden (570f).
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Studie rückt den Umgang mit der Lederknappheit während des Krieges ins Blickfeld: Die Entwicklung und der Einsatz von Ersatzstoffen in der Schuhfabrikation ergaben sich in Deutschland aus den Anforderungen des Vierjahresplans, aber auch in den USA wurden während des Krieges ähnliche Surrogate entwickelt (348). Hier plädiert die Verfasserin für eine wissenschaftliche Neubewertung der bisher "als spezifisch deutsches Phänomen" behandelten Ersatzstoffe (758). Im Gegensatz zu Deutschland und den USA begegnete Großbritannien der Rohstoffknappheit mit einer Standardisierung der Zivilschuhe (656ff) und nahm damit einen "Sonderstatus" ein (762). Die in Deutschland neu entwickelten Materialien waren - wie etwa die Kunststoffe - nach 1945 auf dem Weltmarkt erfolgreich und trugen zum Aufstieg der Bundesrepublik als Kunststoffproduzent bei (758f). Die NS-Zeit stellt somit nach den Worten Sudrows eine "wichtige Umbruchphase und Periode grundlegender Neuerungen auf dem Gebiet der Schuhtechnik" in Deutschland dar (763f). Zugleich konstatiert die Verfasserin eine Professionalisierung des Schuhdesigns (771) und Verwissenschaftlichung des Produktes durch neue Disziplinen wie der Gebrauchswert- oder Marktforschung (773f). Als spezifisch für die deutsche Entwicklung wertet Sudrow den engen Zusammenhang zwischen Konsumgüterversorgung und nationalsozialistischer Rassen- und Vernichtungspolitik (775), sowie die nach nationalsozialistischen Kriterien festgelegte Bedarfshierarchie (776) und die völlige Machtlosigkeit des Verbrauchers im NS-Regime (776).
Nach Lektüre dieses flüssig geschriebenen Werkes bleibt beim Leser die Erkenntnis zurück, welch große Dimensionen die Geschichte eines so banalen Gebrauchsobjektes wie des Schuhes aufweisen kann. Der Schuh im Nationalsozialismus steht beispielhaft für die Möglichkeiten einer modernen integrativen Technik- und Produktgeschichte. Vor allem durch den Vergleich mit Großbritannien und den USA - der sich geschickt, ohne den Fokus auf den deutschen Schauplatz zu verlieren, in die Studie einfügt - wird der Blick für ähnliche und unterschiedliche Entwicklungen geschärft. Die 2010 als beste geschichtswissenschaftliche Dissertation der vergangenen zwei Jahre mit dem Hedwig-Hintze-Preis [1] ausgezeichnete Arbeit setzt Maßstäbe für künftige Forschungen. Den Anspruch, zu zeigen, dass "ganz gewöhnliche Alltagsgegenstände eine politische Geschichte haben" (12), kann Anne Sudrow in ihrer Studie auf beeindruckende Art und Weise einlösen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands. PreisträgerInnen Hedwig Hintze Preis, http://www.historikerverband.de/preise/preistraegerinnen-hedwig-hintze-preis.html (zuletzt aufgerufen am 21.08.2011).
Jörn Retterath