Rezension über:

Claretta Petacci: Mussolini segreto. Diari 1932-1938, Mailand: Rizzoli 2009, 503 S., ISBN 978-88-17-03737-2, EUR 21,00
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Claretta Petacci: Verso il disastro. Mussolini in guerra. Diari 1939-1940, Mailand: Rizzoli 2011, 463 S., ISBN 978-88-17-04742-5, EUR 21,50
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Rezension von:
Hans Woller
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Hans Woller: Die Tagebücher von Claretta Petacci (1932-1940) (Rezension), in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/10/20292.html


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Die Tagebücher von Claretta Petacci (1932-1940)

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Claretta Petacci hat unter den ungezählten Geliebten Mussolinis einen besonderen Rang. Sie teilte das Bett des Duce länger als alle ihre Vorgängerinnen und Rivalinnen, sie ging mit ihm in den Tod, und sie schrieb während der Zeit an seiner Seite Tagebücher, von denen mittlerweile zwei Bände über die Jahre 1932 bis 1940 vorliegen.

Die Publikation des ersten Bandes sorgte auch in Deutschland für beträchtlichen Wirbel. In allen großen Zeitungen gab es Instantkommentare auf der Basis oberflächlicher italienischer Berichterstattung und erste Appetithappen; auch Experten kamen zu Wort, die das Tagebuch aus der Ferne einer raschen Inspektion unterzogen und abtaten oder zumindest nicht so würdigten, wie es die Aufzeichnungen verdienen. Claretta Petacci erschien als hörige, unbedarfte und hysterische Kurtisane, Mussolini als sexsüchtiger, larmoyanter und eifersüchtiger Protz. Die pubertäre Schlüssellochperspektive vernebelte in der selbst verordneten Hektik wilder Nachrichtenjagd den analytischen Blick auf eine erstrangige historische Quelle, deren Wert nicht zuletzt deshalb so hoch veranschlagt werden muss, weil authentische persönliche Zeugnisse aus dem engeren Kreis um Mussolini Mangelware sind.

Claretta Petacci, die 1912 geborene Tochter eines Arztes, lernte Mussolini Anfang der 1930er Jahre kennen und wurde wenig später seine Geliebte. Zuerst eine unter vielen, verdrängte sie bald alle Rivalinnen, die Mussolini anscheinend nie viel bedeuteten. Bei Claretta war das anders. Sie sahen sich so oft wie möglich, an manchen Tagen telefonierten sie fast stündlich miteinander, um sich ihrer Liebe zu versichern oder ihre krankhafte Eifersucht zu besänftigen.

Claretta Petaccis eigentliches Tagebuch beginnt im Herbst 1937; die Einträge aus den Jahren zuvor sind dünn und nicht der Rede wert. Ab Oktober 1937 füllte sie dann Tag für Tag mehrere Seiten. Allein für 1938 scheinen es fast 2000 zu sein, wobei sie offenbar den Ehrgeiz hatte, die Äußerungen Mussolinis im Wortlaut zu überliefern. Bei Kriegsende übergab Claretta ihre Papiere einer Freundin, die sie im Garten vergrub, wo sie fünf Jahre später von den Carabinieri entdeckt wurden. Seitdem liegen sie im Hauptstaatsarchiv in Rom, das die brisanten Dokumente als Staatsgeheimnis behandelte und sogar der Familie vorenthielt.

Die Tagebücher handeln von Liebe und sexueller Leidenschaft, sie sind das Zeugnis von Trennungen und Versöhnungen, und sie zeigen zwei Menschen, die einander verfallen waren und sich in ewigem Argwohn quälten, einander aber letztlich doch nicht entbehren konnten. Darin erschöpfen sie sich aber nicht. Mussolini kannte vor seiner Geliebten keine Geheimnisse: Er berichtete von seinen Reisen durch das Land, er erzählte von Gipfeltreffen wie der Münchner Konferenz von 1938, und er schilderte ihr seine Eindrücke von Potentaten und Staatsgästen, die sich wie Hitler und seine Entourage in Italien aufhielten. Die Urteile über die Deutschen klingen dabei erstaunlich positiv, während Engländer und Franzosen in denkbar schlechtem Licht erscheinen: "Die Engländer sind ein Volk von Schweinen. Sie denken nur mit dem Hinterteil." Große Männer hätten sie mit Ausnahme von Disraeli nicht hervorgebracht, und der sei eigentlich Italiener. "Der Rest sind Juden und Händler, lauter kleine Leute." Der selbst ernannte Weltenlenker entlarvt sich hier als bornierter Tropf, der aus der Stereotypenkiste lebte und kaum Klippschulniveau erreichte.

Besonders häufig behelligte Mussolini seine Geliebte mit rassistischen Ausfällen. Er wütete gegen die Afrikaner, vor allem aber gegen die Juden, die er überall ihr schädliches Werk verrichten sah. Bemerkenswert ist dabei die Radikalität seiner Urteile, die ab Sommer 1938 von Woche zu Woche zunahm und im Oktober 1938 ihren Höhepunkt erreichte: "Diese ekelhaften Juden, man muss alle vernichten. Ich werde ein Blutbad anrichten, wie es die Türken gemacht haben. [...] Sie werden sehen, was die eiserne Faust Mussolinis bewirken kann. Ich werde sie vernichten". Nicht einmal Beethoven war vor Mussolinis Judenhass sicher. Er sei ganz gut, aber leider Jude, sagte er Claretta Petacci, nachdem sie ein Stück des Komponisten im Radio gehört hatten.

Mussolinis Radikalität richtete sich übrigens auch gegen das Königshaus, die katholische Kirche und gegen das italienische Volk, das ihm als zu genügsam und satt erschien, als dass es seine kühnen Revolutions- und Expansionsträume geteilt hätte. "Diese barmherzigen und feigen Italiener", schimpfte er im Oktober 1938. Vier Millionen von ihnen stammten nach seinen Berechnungen von Sklaven ab und seien deshalb zu nichts zu gebrauchen. "Wenn sie ein Zeichen auf der Stirn hätten, würde ich sie alle ausrotten. Sie sind ein Klotz am Bein und die Schande der Nation."

In den Jahren 1939/40, die im zweiten Band dokumentiert sind, wurde Mussolinis Leiden an seinen Landsleuten nicht geringer. Immer wieder haderte er mit den minderwertigen Italienern, die auch fast zwanzig Jahre nach dem "Marsch auf Rom" noch weit vom Ideal eines neuen faschistischen Menschen entfernt waren, das ihm vorschwebte und dem er mit nie erlahmender Energie folgte. Am 7. November 1939 notierte seine Geliebte einen weiteren Ausbruch des Duce: "Um einer Nation ein Rückgrat zu verschaffen, braucht man zwei Jahrhunderte. [...] Ich schaffe das nicht, ich kann nicht in dreißig Jahren das Rückgrat einer Nation verändern. [...] Ich habe unendlich viel zu tun - dieses Volk ist noch nicht geformt: ein bisschen, das schon, aber noch nicht so, wie ich es haben möchte."

Das Gefühl, zu alt zu sein und zu wenig Zeit für seine titanische Aufgabe einer Volksumwandlung zu haben, ließ Mussolini 1939/40 nicht mehr los. Es peinigte ihn und beeinflusste vielleicht auch seine Entscheidung zum Kriegseintritt Italiens im Juni 1940. Zehn Monate zuvor, als Hitler in Polen einmarschiert war und damit den Zweiten Weltkrieg provoziert hatte, war Mussolini noch ruhig geblieben. Die Schuld am Kriegsausbruch gab er übrigens nicht den Deutschen, sondern den Westmächten und vor allem den Polen, die Hitlers berechtigte Forderungen ignoriert hatten. "Die Polen haben einen unstillbaren Hang zum Selbstmord. Von Zeit zu Zeit fühlen sie die Notwendigkeit, sich den Schädel zu spalten", schrieb seine Geliebte am 13. September 1939.

Nicht lange danach meldete sich der Imperialist in Mussolini, der seit jeher von großen Eroberungen träumte. Er ahnte und wusste bereits im Herbst 1939, dass sein Land nicht auf Dauer neutral bleiben konnte, ohne seine Rolle im Konzert der europäischen Mächte zu gefährden. Mit solchen Einsichten fühlte er sich aber weitgehend allein, wie er am 11. April 1940 Claretta Petacci mitteilte: "Diese Italiener müssen sich ein vor alle Mal klar machen, dass sie in einem bestimmten Moment vor dem Dilemma stehen werden: stranguliert zu werden oder in den Krieg zu ziehen. Die Not, die uns die Franzosen und Engländer bereiten, ist so groß, dass ich ihnen am liebsten an die Gurgel springen würde, ohne eine Minute nachzudenken."

In einer ähnlichen Lage sah er 1939/40 auch die Deutschen. "Ich billige das Verhalten der Deutschen voll und ganz. Wenn ein Volk von 85 Millionen Menschen stranguliert und ausgehungert wird, hat es das Recht und die Pflicht, sich zu verteidigen - und zwar mit aller dazu nötiger Brutalität", sagte er seiner Geliebten Mitte Mai 1940, als er längst zum Krieg an der Seite Hitlers entschlossen war, aber auch genau wusste, zu welchen Taten die Deutschen fähig waren (6. Dezember 1939): "Wenn Du wüsstest, was die Deutschen machen! Die Gräueltaten, die sie begehen, die Grausamkeiten, derer sie sich schuldig machen - es ist schrecklich: Bestien, Bestien! Sie erweisen sich als das, was sie sind. Du hattest recht, es ist nicht das Heer, weißt Du? Nein, es ist die SS."

Manches davon ist bekannt, findet in den beiden Bänden aber eine eindruckvolle Bestätigung. Das üble Mussolini-Bild, das sich daraus ergibt, wird von einflussreichen italienischen Faschismusforschern freilich ebenso wenig akzeptiert wie von Teilen der Öffentlichkeit, die in Mussolini noch immer ein Leichtgewicht unter den Verbrechern des 20. Jahrhunderts sieht. Claretta Petaccis Tagebücher könnten hier ein Umdenken bewirken: Nicht einmal in den Armen seiner Geliebten kam der Rassist und Krieger ein wenig zur Ruhe. Selbst dort raste und tobte er gegen Juden und Farbige, gegen Engländer und Franzosen - und gegen alles, was sich ihm in den Weg stellte.

Darüber hinaus werfen die intimen Aufzeichnungen eine Frage auf, die gerade bei Mussolini nicht ignoriert werden kann: Ist es nur ein biografisches Detail, dass der Duce 1937/38 und auch in den Jahren danach mehrere sehr anspruchsvolle Geliebte hatte, dass mindestens eine von ihnen - die Petacci - ihm eine nervenzehrende Eifersuchtsszene nach der anderen lieferte, dass er selbst in politisch entscheidenden Augenblicken am Hörer hing wie an einem Tropf und dass er schließlich mit seiner frustrierten Ehefrau zurecht kommen musste, die er fürchtete und deren Kontrolle er sich nur schwer entziehen konnte? Oder anders gefragt: Fand Mussolini im Liebes-, Eifersuchts- und Ehestress genügend Zeit zum Regieren? Blieben diese Strapazen, Eskapaden und Obsessionen politisch folgenlos? Was bedeutete es überhaupt, dass Mussolini seine Männerphantasien in einem Wechselbad von Euphorie und Depression auslebte - und das über Jahrzehnte und mit kaum nachlassender Energie?

Historiker können diese Fragen kaum klären, aber auch nicht einfach übergehen. Mussolinis Biographie muss deshalb nicht umgeschrieben werden. Es gilt aber, sie mit neuen Facetten zu versehen und dabei die Tatsache im Auge zu behalten, dass der faschistische Diktator - wie kaum ein anderer Politiker im 20. Jahrhundert - im Banne stärkster privater Leidenschaften stand. Diese dominierten seinen Alltag, ruinierten sein Zeitmanagement und erlangten so eine Bedeutung, die gerade in Diktaturen mit "Männern der Vorsehung" an der Spitze kaum überschätzt werden kann.

Um so mehr muss es erstaunen, dass sich die italienische Geschichtswissenschaft nicht intensiver um diese bedeutende, unerklärlich lange weggeschlossene Quelle bemüht und dass sie es einem Dilettanten überlassen hat, den ersten Band zu veröffentlichen. Magere Einleitungen, dürftige Kommentierungen, unmotivierte, kaum gekennzeichnete Kürzungen und schließlich Vor- und Nachworte aus der Feder von Ferdinando Petacci, eines Neffen von Claretta, der seine von Kenntnissen ungetrübten Phantasien ausbreiten und damit die Geister verwirren darf - die Kunst der Edition scheint in Italien ebenso ausgestorben zu sein wie der Berufsstand der Lektoren und Gutachter. Claretta Petacci hätte im Leben vielleicht Besseres verdient gehabt, ihre Tagebücher haben es heute gewiss.

Hans Woller