Beyeler Museum AG (Hg.): Segantini, Ostfildern: Hatje Cantz 2011, 169 S., 113 Farb-, 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-7757-2759-4, EUR 49,80
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Vom 16. Januar bis zum 25. April 2011 fand in der Fondation Beyeler in Riehen/Basel eine ambitionierte Ausstellung statt, die dem Schaffen Giovanni Segantinis (1858-1899) gewidmet war. Der Maler ist in dem seinerzeit zu Österreich gehörenden Arco (Trentino) geboren und wird von der italienischen, vor allem aber von der Schweizer Kunstgeschichte als einer der "Ihren" reklamiert. Letzteres manifestierte sich überdeutlich bei der Ausstellung, zumindest an dem Tag, an dem sie der Rezensent besuchte. Während die exquisiten Exponate moderner Kunst in den übrigen Räumen der Fondation eine lediglich überschaubare Zahl von Besuchern aus aller Welt anlockten, drängte sich ein hauptsächlich heimisches Publikum in Scharen vor den Bildern und Zeichnungen Segantinis. Es liegt nahe, dieses Phänomen als Spiegelbild zu sehen für die nach wie vor verhältnismäßig ambivalente Rezeption Segantinis: im breiten internationalen Rahmen immer noch die eher untergeordnete Einschätzung dieses Künstlers, auf lokaler Ebene jedoch der seit längerem intendierte Versuch, ihm endlich das zweifellos gebührende kunsthistorische Renommee zuteilwerden zu lassen. 1990/91 hatten dies beispielsweise schon eine Retrospektive in Zürich und Wien sowie im Jahr 2004 ein vom Segantini-Museum in St. Moritz initiierter und von Beat Stutzer herausgegebener Sammelband mit Werkinterpretationen unternommen. [1]
Die Baseler Ausstellung unterlag, wie nicht anders zu erwarten, dem Manko, dass die in diversen europäischen Museen exponierten, großformatigen Werke Segantinis nicht ausgeliehen werden durften. Deshalb waren jene Gemälde, die vermutlich das Musée imaginaire eines weiter gesteckten Rezipientenkreises bestücken (vor allem 'Le cattive madri/Die bösen Mütter' oder 'Ave Maria a trasbordo/Ave Maria bei der Überfahrt') nicht vertreten. Insbesondere das Spätwerk Segantinis war aus besagtem Grund so gut wie nicht präsent. Zu Recht konnten die Ausstellungskuratoren freilich darauf verweisen, dieses Manko zum Teil wieder kompensiert zu haben durch die Präsentation vieler erstmals - oder zumindest in der Schweiz erstmals - öffentlich zu sehender Gemälde und vor allem auch hervorragender Zeichnungen aus der Hand dieses Künstlers, nicht zuletzt solcher aus seinen Mailänder Anfangsjahren.
Das die Ausstellung begleitende Katalogbuch überzeugt hinsichtlich seiner äußeren Aufmachung, überzeugt in einer vom Hatje Cantz Verlag gewohnten Solidität; sämtliche Exponate sind großformatig abgebildet, hinzu kommen Fotos zu Vergleichswerken (die in den jeweiligen Aufsätzen erwähnt werden) und historische Aufnahmen aus dem Lebensumfeld des Künstlers. Allerdings überrascht angesichts des im Rahmen eines Katalogs üblichen wissenschaftlichen Apparats das Fehlen eines Literaturverzeichnisses. Was die inhaltliche Qualität der insgesamt acht Textbeiträge (abgesehen vom Vorwort, der Biografie und dem knapp gehaltenen Verzeichnis der ausgestellten Werke) betrifft, ist der Eindruck indes zwiespältig.
Die jeweiligen Beiträge fallen ausnahmslos sehr kurz aus, manchmal, nach meinem Dafürhalten, allzu kurz. Deshalb bietet beispielsweise der Essay Ulf Küsters zu den zahlreichen künstlerischen Impulsen, die Courbet, Millet, Liebermann und andere Vorbilder auf das Schaffen Segantinis ausgestrahlt haben, zwar eine Fülle einschlägiger Hinweise, die man sich in dem einen oder anderen Fall freilich doch wesentlich ausführlicher und präziser wünschen würde. Annie-Paule Quinsac liefert in ihrem Artikel "Über den Divisionismus hinaus - Segantini und die Ästhetik des Fin de Siècle" den meines Erachtens profundesten Beitrag zur kunsthistorischen Einordnung Segantinis - aufgrund des auch hier nur sehr knapp bemessenen Raumes war der Überblick freilich nur in äußerst komprimierter Form zu bewältigen, die den Nichtspezialisten gelegentlich überfordern dürfte. Der Spezialist freilich weiß um die fundierte Kenntnislage, mit der die Autorin Segantini ins Panorama zeitgenössischer Phänomene - Divisionismus bzw. Neoimpressionismus, Malerei der Macchiaioli, Symbolismus usw. - einordnet, aber, um es zu wiederholen, einem breiteren Lesepublikum wäre die genauere historische Qualifikation dieser Richtungen sicherlich hilfreich gewesen.
Dass drei Autoren ihre Texte dem "Alpenmythos" widmen (der Soziologe Pietro Bellasi, der die Berge gemäß den Ausführungen John Ruskins als "Kathedralen der Natur" deutet - ein Aufsatz, der eine Reihe interessanter Hinweise beinhaltet, sodann Patrick Stoffel, der das alpine Weltverhältnis als das organisierende Prinzip einer ganzen Epoche zu fassen sucht und schließlich Dieter Bachmann, der essayistisch dem Maler, wie es heißt, "ein bisschen nachzusteigen" sucht auf seinen entrückten Höhenwanderungen), mag auf unterschiedliche Resonanz und Akzeptanz seitens einzelner Leser stoßen. Mir persönlich scheint damit eine Mythisierung Segantinis als "Esoteriker", als in die Bergeseinsamkeit "entrücktes" Genie und als der Prophet alpiner "magnificenza" gegeben, die auratisch die eigentlich auf kunstwissenschaftlichem Wege zu verifizierende Position Segantinis festlegen will.
Ein gewisser Hang zur emphatischen Auratisierung dieses Künstlers ist überhaupt in manchen Passagen spürbar. Der Vergleich von Segantinis Selbstporträt aus dem Jahr 1895 mit Dürers Münchner Selbstbildnis von 1500, den Ulf Küster anstellt, wirkt doch recht gewagt, selbst wenn die hieratische, ikonenhafte Frontalität einen gewissen formalen Bezug abzugeben scheint (im Übrigen müsste eine derartige Komparatistik die neuesten Interpretationen des Dürer-Bildes heranziehen, und nicht zuletzt wäre zu erklären, warum Segantini, sollte er sich wirklich dieses Vorbildes als eines Stimulus bedient haben, auf das bei Dürer so auffallende Motiv der Künstlerhand verzichtete). Wenn Beat Stutzer in seinem Aufsatz über Segantinis weibliche Modelle Bilder Rembrandts, Raffaels, Picassos und Alberto Giacomettis erwähnt, um im gleichen Atemzug zu konstatieren, dass Segantinis Darstellungen des Hausmädchens Baba Uffers völlig konträr zu dergleichen Modellsituationen zu sehen seien, fragt man sich, warum der Autor überhaupt zu diesen doch recht hoch angesiedelten Exempla gegriffen hat. Auch die Behauptung Diana Segantinis, der Urenkelin des Künstlers und Mitglieds des Kuratorenteams, der Maler sei ein großer Denker, ein Philosoph gewesen, ist wohl einer übertriebenen, wenn auch verständlichen Begeisterung geschuldet und jedenfalls aus den Zitaten, welche die Autorin beibringt, nicht herauszulesen.
Zusammenfassend: Der Katalog zur Baseler Ausstellung ist ein weiterer nützlicher Baustein im komplexen Gebäude der Segantini-Rezeption - nicht mehr und nicht weniger. Darüber hinaus ist jedenfalls noch viel wissenschaftliche Arbeit nötig, um diesem bemerkenswerten Künstler jene internationale Breitenwirkung zu verschaffen, die ihm zweifellos zusteht.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu die Besprechung des Rezensenten: Beat Stutzer (Hg.): Blicke ins Licht: neue Betrachtungen zum Werk von Giovanni Segantini, Zürich 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/07/6999.html.
Norbert Wolf