Timur Kuran: The Long Divergence. How Islamic Law Held Back the Middle East, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2011, XVI + 405 S., ISBN 978-0-691-14756-7, USD 29,95
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Timur Kuran, der als Wirtschaftswissenschaftler über die historische Entwicklung der islamischen Welt forscht, hat mit "The Long Divergence" ein Buch vorgelegt, dessen Provokationspotenzial ihm wohl bewusst gewesen zu sein scheint. Seine Hauptthese, nämlich dass bestimmte Aspekte des islamischen Rechts, die die Entstehung moderner Unternehmenstypen verhindert hätten, ein wesentlicher, wenn nicht der wesentliche Grund für die seit dem 19. Jahrhundert deutlich feststellbare ökonomische Rückständigkeit der islamischen Welt seien, lädt zu reflexhafter Kritik geradezu ein: Wird hier nicht einer Essenzialisierung des Islams das Wort geredet, die in der Wissenschaft schon längst verpönt ist; einer Rückführung sozialer und wirtschaftlicher Probleme auf "den Islam"; einer Sichtweise, die das islamische Recht als unveränderlich, unflexibel, absolut bindend und alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens durchdringend betrachtet und zudem die mannigfaltigen regionalen und lokalen Unterschiede in seiner Anwendung oder Nichtanwendung außer Acht lässt?
In Vorwegnahme solcher Einwände macht Kuran schon im Vorwort deutlich, dass es ihm um eine Abwertung des islamischen Rechts oder überhaupt um dessen moralische Beurteilung nicht gehe; vielmehr bestehe sein Ziel darin, darzulegen, dass und warum bestimmte Institutionen des islamischen Rechts, die seiner Einschätzung nach in ihrer Entstehungszeit fortschrittlich waren und über Jahrhunderte gut funktionierten, in späterer Zeit erheblich weniger erfolgreich waren als diejenigen, die zeitgleich in Europa vorzufinden waren. Diese Institutionen stellt er explizit nicht als starr und monolithisch dar; er geht aber davon aus, dass sie in den wichtigsten Wirtschaftszentren des Nahen Ostens mit Bezug auf Unternehmen, die von Muslimen geführt wurden, mit vergleichsweise geringen Abweichungen wirksam waren. Im Kern seiner Argumentation stehen dabei erstens die Regeln des Gesellschaftsrechts, die, so Kuran, die Entstehung großer Gesellschaften mit entsprechender Kapitalakkumulation über den Tod der Teilhaber hinaus verhinderten, und zweitens das Erbrecht, das zu einer sehr weitgehenden Aufspaltung des Vermögens der Erblasser führte. Auch das Fehlen eines entwickelten Kreditwesens führt er in erster Linie auf diese Aspekte und nur nachrangig auf das Zinsverbot, das auf viele Arten umgangen wurde, zurück.
Seine Kernargumente sucht Kuran durch eine umfassende historische Analyse, gestützt auf mannigfaltige Detailbefunde, zu belegen. Wie bei solch einer Studie nicht anders zu erwarten, entnimmt er seine Belege überwiegend der Sekundärliteratur, trägt jedoch auch eigene Recherchen bei, in erster Linie in Istanbuler Gerichtsarchiven. Durch die sachliche, kleinteilige und präzise Argumentation sowie den Verzicht auf Wertungen hebt sich Kurans Buch angenehm von Werken mit ähnlicher Ausgangsfrage wie Bernard Lewis' "What Went Wrong" ab, die sich auf normativ-kulturalistische Erklärungsmuster wie etwa ein Fehlen an geistiger Freiheit stützen. Kuran denkt im Gegensatz zu diesen außerdem immer wieder über die Ost-West-Dichotomie hinaus, wenn er zum Beispiel muslimische Handelsbeziehungen nach Afrika und Asien mit denen nach Europa vergleicht.
Wenig hilfreich ist hingegen die Tatsache, dass sich Kuran an keiner Stelle explizit mit den verwendeten Quellen oder seiner Methodik auseinandersetzt. Insbesondere eine Konzeptionalisierung des Verhältnisses von islamischer Rechtstheorie zur Rechtsanwendung fehlt; in der Folge ist oft nicht deutlich, auf welcher der beiden Ebenen Kuran argumentiert, und es entsteht bisweilen der Eindruck, dass er willkürlich Befunde aus beiden Bereichen heranzieht, um seine Argumente zu belegen, ohne sie ausreichend zueinander ins Verhältnis zu setzen.
In der Einleitung des Buches legt Kuran dar, dass monokausale Erklärungen dem komplexen Problem der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Nahen Ostens unangemessen seien und dass ökonomische Institutionen nicht unabhängig von anderen Faktoren wie Wissensproduktion oder Staatsverwaltung gewesen seien. Einen beliebigen dieser Faktoren zur primären Ursache zu erklären sei ein Fehlschluss (14-16).
Die größte Schwäche des Buches liegt darin, dass Kuran diese Zurückhaltung nicht beibehält und trotz seiner anfänglichen gegenteiligen Behauptung doch immer wieder der Versuchung verfällt, die von ihm dargelegten Strukturen nicht nur als ursächlich, sondern als hauptursächlich für die geringe Wirtschaftskraft des Nahen Ostens zu erklären, was in dieser Pauschalität oft angreifbar ist. Ein Bespiel ist der Abschnitt der Einleitung, in dem er versucht, seine Entscheidung für die Konzentration auf die Struktur von Wirtschaftsunternehmen gegenüber anderen möglichen Ursachen der Unterentwicklung zu begründen. Sein erstes, durchaus schlüssiges Argument lautet, die bisherige historische Forschung zum Nahen Osten habe dem Staat sehr breiten Raum gewidmet, auch weil das vorhandene Archivmaterial staatslastig sei; eine Fokussierung auf private Akteure sei daher am ehesten geeignet, die Forschung weiterzubringen (17 f.). Kuran verweist darüber hinaus darauf, dass staatliches Handeln dynamischer, flexibler und anpassungsfähiger gewesen sei als wirtschafsrechtliche Strukturen, die ca. vom Jahr bis 1000 bis ins 19. Jahrhundert stagniert hätten und insofern vorrangig als Ursache der ökonomischen Unterentwicklung in Betracht kämen. Zudem sei die Wirtschaftskraft eines Territoriums eine zentrale Determinante staatlichen Handelns (18 f.). An diesem Punkt kommen gewisse Zweifel auf: Ist das Stagnationsparadigma zutreffend, und ist es überhaupt eine zureichende Erklärung für den Erfolg oder Misserfolg von Systemen? Und sind nicht auch staatliche Rahmenbedingungen eine zentrale Determinante der Wirtschaftskraft eines Territoriums? Hier wäre es der inneren Logik zuträglich gewesen, die anfängliche Absage an eindimensionale Erklärungen aufrechtzuerhalten.
Den Eindruck der Überbetonung der zentralen These erweckt das Buch immer wieder; dementsprechend wirkt die Argumentation zunehmend repetitiv, obwohl ständig neue Themen erörtert und Belege präsentiert werden. Allzu einseitig liegt der Fokus auf dem Versuch, immer wieder nachzuweisen, dass das islamische Recht die Entstehung großer, dauerhafter Korporationen nicht zugelassen habe und dass genau dieser Faktor für die wirtschaftliche Rückständigkeit der islamischen Welt ursächlich sei; Gegenargumente finden keine oder nicht ausreichende Berücksichtigung. So sucht Kuran zu belegen, dass die große Kluft zwischen der Wirtschaftskraft Europas und der des Nahen Ostens im 19. Jahrhundert entstanden sei und es seitdem, nachdem nämlich die Staaten des Nahen Ostens europäische Formen des Gesellschaftsrechts eingeführt hätten, keine weitere Öffnung der Schere gegeben habe (3). Auf das nahe liegende Gegenargument, dass ein erheblicher Teil des seit dem 20. Jahrhundert zu verzeichnenden Wirtschaftswachstums im Nahen Osten auf die Erdölförderung und nicht auf die Erfolge großer Unternehmen zurückzuführen ist, geht er nicht ein.
Auch an anderen Punkten fehlt die Distanz zur Kernthese, die nötig wäre, um den Blick für weitere Zusammenhänge und andere Ursachen zu öffnen. Bei aller Kritik an der Staatslastigkeit früherer Forschung stellt sich doch die Frage, warum ein Werk, das sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Nahen Ostens beschäftigt, das Steuersystem, die massiven Militärausgaben, die durch das Steuerpachtsystem bedingte Landflucht und ähnliche Aspekte staatlichen Eingriffs in das Wirtschaftsleben für völlig vernachlässigbar hält. In seiner Analyse des Aufstiegs von Korporationen im europäischen Mittelalter erwähnt Kuran unter anderem die Schwächung staatlicher Zentralmacht und das Florieren der Landwirtschaft als Faktoren, die zu dieser Entwicklung beigetragen hätten (103), scheint aber umgekehrt den gegenteiligen Entwicklungen im Nahen Osten keine ursächliche Bedeutung für seine These beizumessen. Ebenso lapidar abgehandelt wird die Ausweichmöglichkeit, die das islamische Recht für die Erbteilung anbietet, nämlich die Schenkung vor dem Tod (80). Hier hätte der Verfasser, um seine weitreichende These zu stützen, zumindest die Frage erörtern müssen, ob diese Möglichkeit genutzt wurde oder nicht, und wenn nicht, aus welchen Gründen sie für Unternehmer keine attraktive Option darstellte.
Eine zentrale Prämisse von Kurans These schließlich, nämlich die, dass unter islamischem Recht Gesellschaften automatisch mit dem Tod eines der Teilhaber aufzulösen sind, ist schlicht nicht uneingeschränkt zutreffend. Viele hanafitische Rechtsgelehrte, denen auch die osmanische Mecelle folgte, sahen für ʿinān-Gesellschaften mit mehr als zwei Teilhabern das Fortbestehen vor. [1] Dieses Detail wäre weniger bedeutsam, wenn Kuran nicht so derart weitreichende Schlussfolgerungen aus einem vergleichsweise begrenzten Kontingent theoretischer Erwägungen ziehen würde; die Empirie dient ihm letztlich nur dazu, diese Erwägungen und seine darauf abgeleitete These zu stützen, nicht aber für ernsthafte Falsifizierungsversuche. Das ist bedauerlich, denn seine These ist insgesamt keineswegs unplausibel; nur vermag der Verfasser nicht zu belegen, dass sie derart hohe und ausschließliche Wirkungsmacht hatte, wie er es postuliert. Eine zurückhaltendere Argumentation, die offen ist für weitere Faktoren - ohne diese notwendigerweise in den Mittelpunkt der Untersuchung stellen zu müssen - wäre sachdienlich gewesen. Vor allem aber wäre mehr Offenheit für Faktoren jenseits des islamischen Rechts, die zum Fehlen großer Korporationen bis ins 19. Jahrhundert führten, zu wünschen gewesen.
Insgesamt ist Kurans Buch anregend und bietet eine Fülle von Fakten und interessanten Beobachtungen. Nicht alle seiner Argumente können einer kritischen Überprüfung standhalten; sein Ziel, neue Impulse für die Forschung zu setzen, dürfte er jedoch, auch durch die zugrundeliegende höchst umfangreiche Archivarbeit, erreicht haben.
Anmerkung:
[1] Çızakça, Murat: "Was Shari'ah indeed the culprit?" München 2010, http://mpra.ub.uni-muenchen.de/22865/ (abgerufen am 27.9.2011).
Johanna Pink