Gerald Dörner (Bearb.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Bd. 20: Elsass I. Straßburg, Tübingen: Mohr Siebeck 2011, XII + 735 S., ISBN 978-3-16-150684-0, EUR 199,00
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Straßburg war in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine bedeutende Stadt mit großem politischem und religionsgeschichtlichem Einfluss. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass nun innerhalb der Evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts auch eine Edition der Straßburger Ordnungen vorliegt. Wie schon in den Vorgängerbänden wird der Begriff "Kirchenordnung" dabei sehr weit ausgelegt. So finden sich in der Edition auch ein Katechismus und mehrere Gebete (vgl. Nr. 56 ein Gebet wegen der Verfolgung der Protestanten, vor allem in Frankreich und den Niederlanden). Diese sind religionsgeschichtlich wichtig und interessant, haben aber keinen kirchenordnenden Charakter. Ähnliches ließe sich über Stücke wie den Vortrag des Magistrats wegen der Abschaffung der Messe von 1529 sagen (Nr. 9a). Trotz dieser kleinen Kritik ist jedoch festzuhalten, dass der Band durch die Ausweitung des Kirchenordnungsbegriffs an Bedeutsamkeit für die religionsgeschichtliche Forschung gewinnt.
Die Einleitung des Bearbeiters beschreibt kurz die politische und kirchliche Vorgeschichte Straßburgs und kontextualisiert und interpretiert dann die Texte. Dabei werden die geschichtlichen Ausgangsbedingungen ebenso wie die Veränderungen im religiösen Auftreten Straßburgs während des 16. Jahrhunderts herausgearbeitet. Auf diese Weise bekommt der Leser einen Überblick über die gesamte Straßburger Reformationsgeschichte anhand ihrer kirchenordnenden Erlasse. In diesem Band kann man die Einführung und Durchsetzung der Reformation ebenso verfolgen wie den Umschwung von der stärker oberdeutsch-helvetisch geprägten und durch Martin Bucer beeinflussten frühen Reformation zur Annäherung an und Aufnahme von lutherischen Positionen unter Johannes Marbach und der immer stärkeren Konfessionalisierung Straßburgs.
Auf die Einleitung folgen 65 Nummern, teilweise mit mehreren Dokumenten. Die Edition beginnt mit den Armenordnungen von 1523 und endet mit der Anordnung des Magistrats sowie Gebeten zur Feier des Reformationsjubiläums 1617. Sie weist drei Apparate auf: Textkritik, Marginalien und Erklärungen/Nachweise.
Im Folgenden können nur einige der für die religiöse Entwicklung Straßburgs interessantesten Texte beschrieben werden. Die erste deutsche Messe wurde in der Passionszeit 1524 gefeiert. Kurz zuvor, im Dezember 1523, erließ der Magistrat ein Mandat, mit dem er gegenseitige Schmähungen unterband und zu Eintracht, Frieden und brüderlicher Liebe aufrief (Nr. 2). Die ersten neuen Agenden erschienen in den Jahren 1524 bis 1526; an ihnen lässt sich die Veränderung in der Gottesdienstordnung gut verfolgen. So ist der erste Entwurf einer deutschen Messe von 1524 noch sehr an der hergebrachten Messe orientiert (Nr. 3a). Die katholischen Riten werden dann jedoch schnell aufgegeben. In Nr. 3f von 1526 werden die Veränderungen im Taufritus sogar explizit: "Das oel, Chrisam und das verzaubert wasser geprauchen sye nit mer zum tauff" (153). Die theologische Entwicklung lässt sich auch an den ausführlichen Gebeten und den Erklärungen innerhalb der Gottesdienstordnungen nachvollziehen. In 3f wird die Taufe mit der Beschneidung in Verbindung gebracht. Die Ausführungen orientieren sich deutlich an der Bucerschen Theologie.
Theologische Auffassungen finden sich ebenfalls im von Wolfgang Capito verfassten Katechismus (Nr. 8: "Kinder bericht"). Auch hier wäre zu fragen, ob der Katechismus wirklich in eine Kirchenordnungsedition gehört. Religionsgeschichtlich ist er freilich sehr interessant. Capito interpretiert die Präsenz Christi im Abendmahl rein geistlich. Die Betonung liegt auf der Verkündigung, nicht auf der Präsenz. Die Bedeutung der Abendmahlsfrage wird durch die Ausführlichkeit der Ausführungen (181-184) unterstrichen. Ebenfalls sehr detailliert geht Capito auf die (Kinder)taufe ein. Der Katechismus scheint weit über einen Kinderkatechismus hinauszugehen. - Mit genau diesem Argument wurde er später ausgesetzt (so die Argumentation in Johannes Marbachs Kirchenordnung, Nr. 38).
In der Kirchenordnung von 1534 (Nr. 17) wird vermerkt, welche Unruhe die Reformation in der Stadt gestiftet hatte. Dem solle nun entgegengewirkt werden, unter anderem mittels einer strengeren Durchführung von Kirchenzucht, der Beobachtung der Gemeindeglieder durch Geistliche und Kirchspielpfleger und durch Visitation in den Landgemeinden. Ergänzt wurde die Kirchenordnung durch eine Disziplinarordnung (Nr. 19a).
Insgesamt fällt auf, wie stark in Straßburg kirchenordnende und liturgische Texte miteinander verbunden wurden und wie sehr theologisch argumentiert wurde. So weisen die meisten Kirchenordnungen agendarische Teile auf, und die Agenden enthalten Ordnungsmaßnahmen. So zum Beispiel die Agende von 1537/41 (Nr. 23), die ausführlich vorgibt, welche Schritte der Eheschließung einer kirchlichen Trauung vorausgehen mussten. Im Teil zur Taufe finden sich allgemeine Erläuterungen zum Taufverständnis.
Bedeutsam ist die, wenn auch nur handschriftlich vorliegende und nicht offiziell verabschiedete, Kirchenordnung Johannes Marbachs (Nr. 38), weil sie den Umschwung zur lutherischen Konfessionalisierung markiert. Ihr folgt die Stellungnahme der Straßburger Geistlichen zu diesem Entwurf (Nr. 39), sodass auch die Diskussionen innerhalb der Geistlichkeit abgebildet sind. Marbach beginnt die Kirchenordnung mit dem Verweis auf Buße und Sündenvergebung als Grundlagen christlichen Lebens. Detaillierte theologische Ausführungen leiten die Kirchenordnung ein, ausführlich wird die christliche Freiheit erklärt. Dass auch die Gebete und Beschreibungen sehr ausführlich sind, wird unter anderem von den Straßburger Geistlichen kritisiert (zum Beispiel 446). In der Kirchenordnung finden sich agendarische Texte zu allen gottesdienstlichen Teilen sowie ein Examen der Kinder vor der Abendmahlszulassung. Als Katechismus solle nun wegen der zu großen Länge und Komplexität der Katechismen von Bucer, Capito und Zell Martin Luthers Kleiner Katechismus gelehrt werden - allerdings unter Beibehaltung der reformierten Zählung der 10 Gebote. Im Abendmahlsteil wird die Sündenvergebung betont und immer wieder hervorgehoben, dass es sich um Jesu Christi Leib und Blut handele - eine scharfe Abgrenzung zu Capitos Katechismus.
Es folgen einige konfessionsgeschichtlich bedeutsame Dokumente: die Entscheidung des Magistrats über den Frankfurter Rezess von 1558 (Nr. 41), die Entscheidung zur Konfession der Stadt von 1563 (Nr. 45) und die Straßburger Konkordie aus demselben Jahr (Nr. 46), die den Streit um die Prädestinationslehre beenden sollte. In der Bekenntniserklärung der Straßburger Geistlichen vor der Übernahme eines Amtes von 1565 (Nr. 49) findet sich dann ein expliziter Bezug auf Martin Luther, die Confessio Augustana und weitere Bekenntnisse aus der lutherischen Reformation. Hier werden die sakramentale Nießung und die Präsenz des Leibes Christi im Abendmahl hervorgehoben. Die Auffassungen Zwinglis, Calvins und anderer Reformatoren werden explizit abgelehnt. Die Abkehr von früheren Auffassungen ist in Straßburg endgültig und offiziell vollzogen.
Die Gottesdienstordnung von 1577 (Nr. 53) schreibt den Geistlichen vor, Confessio Augustana, Apologie und Konkordienformel zu unterschreiben. Zwar hatte der Rat die Konkordienformel nicht notwendig machen wollen, aber sie wurde von den Geistlichen trotzdem unterzeichnet (512, Anm. 7+8). Insgesamt greift die Ordnung stark auf Marbachs Kirchenordnung zurück.
Die umfangreiche Kirchenordnung von 1598 (Nr. 61) ist eingeteilt in Lehre, Zeremonien und Kirchenorganisation. Der Lehrteil beginnt mit Ausführungen zur Glaubensgerechtigkeit, zu den biblischen Schriften, Bekenntnissen, Kirchenvätern, Konzilien und Reformatoren - ein Kurzüberblick über die Kirchengeschichte bis zur Reformation. Die Geschichte ab 1524 ist ausführlich dargestellt, mit besonderem Nachdruck auf den Auseinandersetzungen um das Abendmahl und zur Beziehung zwischen Wittenberger und Straßburger Theologen. Auch in dieser Kirchenordnung ist im Zeremonienteil die Agende integriert. Zum Abendmahl gibt es genaue Vorgaben, wie Hostien und Wein zu reichen sind und wie die Hostien auszusehen haben. Das impliziert eine deutliche Abgrenzung vom reformierten Ritus. Im Teil zu den Zeremonien findet sich auch der Katechismus, wobei zunächst mit geringfügigen Abweichungen Luthers Kleiner Katechismus dargeboten wird.
Neben den vorgestellten Stücken umfasst die Edition kleinere Ordnungen, Beschlüsse, Mandate, Statuten und Weisungen des Magistrats. Sie bietet so einen Einblick in die Straßburger Reformationsgeschichte, der sie für die Forschung unverzichtbar machen wird.
Judith Becker