Rezension über:

Thomas Diehl: Adelsherrschaft im Werraraum. Das Gericht Boyneburg im Prozess der Grundlegung frühmoderner Staatlichkeit (Ende des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts) (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte; 159), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2010, 482 S., ISBN 978-3-88443-314-0, EUR 39,00
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Rezension von:
Axel Flügel
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Axel Flügel: Rezension von: Thomas Diehl: Adelsherrschaft im Werraraum. Das Gericht Boyneburg im Prozess der Grundlegung frühmoderner Staatlichkeit (Ende des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/01/18923.html


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Thomas Diehl: Adelsherrschaft im Werraraum

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Das Buch "Adelsherrschaft im Werraraum" von Thomas Diehl stellt eine klassische, an der Universität Kassel angefertigte Dissertation dar, deren Vorhaben darin besteht, einen bestimmten Quellenbestand aufzuarbeiten, hier die Akten zum Gericht Boyneburg in der Zeit von 1591 bis 1655, und die daraus gewonnenen Befunde in einen geschichtswissenschaftlichen Zusammenhang, in diesem Fall den Prozess der frühneuzeitlichen Staatsbildung, einzubetten. Die Burg und das zugehörige Gericht Boyneburg in der Nähe von Eschwege in der Landgrafschaft Hessen-Kassel an der Grenze zu Thüringen waren im Untersuchungszeitraum in der Hand einer adeligen Ganerbschaft, die von den drei Häusern Boyneburg-Hohenstein (bis 1792), Boyneburg-Bischhausen und Laudenbach sowie Boyneburg-Stedtfeld gebildet wurde und seit dem Burgfriedensvertrag von 1512 vertraglich fixiert war. Oberlehnsherr der Burg Boyneburg war der hessische Landgraf. Inwieweit die Landgrafen darüber hinaus im Gerichtsbezirk landesherrliche oder gar territorialstaatliche Befugnisse besaßen und diese, insofern sie eine übergeordnete Landeshoheit beanspruchten, gegen den Adel und seine Hintersassen, die Hausgesessenen, durchsetzen konnten, ist das zentrale Thema der Untersuchung. Die Thematik wird in sechs umfangreichen Kapiteln in ihren lokalen Umständen und Entwicklungen entfaltet.

In den beiden einleitenden Kapiteln werden das Gericht Boyneburg und die allgemeine Struktur der Boyneburger Herrschaft vorgestellt, insbesondere die Grundherrschaft und die lokalen Herrschaftsrechte des Adels. Im Gerichtsbezirk, der außerhalb der hessischen Ämterorganisation stand, lagen achtzehn Dörfer mit annähernd neunhundert Hausgesessenen. Die von Boyneburg hatten hier in einer für die Frühe Neuzeit recht geschlossenen Weise die hohe und niedere Gerichtsbarkeit inne, die sie aus eigenem Recht herleiteten und nicht im Auftrag der Landgrafen ausübten. Die lokale adelige Herrschaft verfügte aber nur über einen kleinen Stab von beauftragten, rechtskundigen Amtsträgern. Die von Boyneburg bestellten die dörflichen Amtsträger und beanspruchten weitere bedeutende Rechte, wie das Patronatsrecht, das Jagdrecht oder das Pfändungsrecht, und legten die lokal gültigen Maße und Gewichte fest. Dem Landgrafen verblieben im Gericht abgesehen von einigen wenigen Hausgesessenen des aufgehobenen Klosters Germerode vor allem das Geleitsrecht und die Landesteuern, die aber durch die von Boyneburg umgelegt und eingesammelt wurden. Im Ergebnis hebt die Darstellung nachdrücklich die überragende Rolle der frühneuzeitlichen Rechtskultur für die Praxis und das zeitgenössische Verständnis adeliger Herrschaft hervor.

Einen wichtigen Bereich rechtsförmiger adeliger Herrschaft stellt das dritte Kapitel vor, das den Policeyordnungen von 1591 und 1604 gewidmet ist. Drei Aspekte sind hier von Interesse: Zum einen beschreibt der Autor allgemein die Demonstration herrschaftlicher und territorialer Gebotsgewalt durch die Aufstellung solcher Ordnungen, die durch die Konkurrenzlage der von Boyneburg zum hessischen Landgrafen motiviert war. Zum anderen werden die jetzt einer expliziten Regelung unterworfenen Lebensbereiche umrissen, von der Sorge um eine christliche Lebensführung und den rechten Gottesdienstbesuch bis zur Bewahrung des Friedens im Dorf und der dörflichen Ressourcen, besonders des Holzes. An der Policeyordnung von 1604 hebt Diehl drittens besonders hervor, dass sie zwar ein Zeichen der adligen Herrschaftsintensivierung darstellte, zugleich aber, was die Details der Vorschriften und Regelungen anging, in hohem Maß nur in Kooperation mit den tonangebenden dörflichen "Nachbarn" umgesetzt werden konnte.

Die zwei folgenden Kapitel sind stärker den zeitgenössischen Konflikten gewidmet. Im Hinblick auf das Lehnrecht und die Landsässigkeit war das Gericht Boyneburg zwar Teil der Landgrafschaft Hessen-Kassel, die lokale Herrschaft übten die von Boyneburg aber nahezu selbständig aus. In einem Vertrag mit dem Landgrafen Moritz aus dem Jahr 1602 konnten sie ihre starke, quasi territorialherrliche Stellung sogar noch einmal festigen. Den Gegenschlag brachte dann nur drei Jahre später der Anspruch auf das landesherrliche Kirchenregiment. Mit seinen calvinistischen Verbesserungspunkten von 1605 griff der Landgraf massiv und letztlich erfolgreich in das adelige Kirchenpatronat der lutherisch bleibenden von Boyneburg ein. Der andere ausführlicher vorgestellte Konflikt ereignete sich in den Jahren von 1617 bis 1620 zwischen den von Boyneburg und der Gemeinde Rittmannshausen. Auslöser des Konfliktes war der Streit um die Kompetenz des Dorfes zur gemeindlichen Rüge einschließlich des gemeinsamen Vertrinkens des Gemeindebiers, das der Delinquent zu zahlen hatte. Im Verlauf des Konfliktes erfolgte die Verhaftung der Dorfvorsteher, später legten die von Boyneburg eine Besatzung ins Dorf, um den Widerstand zu brechen. Am Ende wurden die Dorfbewohner auf der Grundlage der Policeyordnung von 1604 zu ruinösen Geldstrafen verurteilt.

Das abschließende Kapitel behandelt den Zusammenbruch der relativ autonomen territorialen Stellung der von Boyneburg im Dreißigjährigen Krieg. Nach Diehl konnten sie für ihre Untertanen den notwendigen Schutz und Schirm gegen die Soldateska nicht leisten. Die ausgehandelten und teuer bezahlten kaiserlichen Schutzbriefe blieben Papier. Ohne die Leistung von Schutz und Schirm verlor die adelige Herrschaft aber ihre Legitimität. In ihrer Not kündigten die Boyneburger Hausgenossen ihren Konsens mit der adeligen Herrschaft auf und wandten sich dem hessischen Landgrafen zu. In der Folge konnten die Landgrafen seit 1650 ihren Anspruch auf Suprematie auch im Gericht Boyneburg durch die Etablierung einer veritablen Landesherrschaft vollständig durchsetzen.

Die große Stärke der Arbeit liegt in der exemplarischen Darstellung adeliger Herrschaft vor dem Westfälischen Frieden, die man nicht zuletzt deswegen mit großem Gewinn für die eigene historische Vorstellungskraft liest, weil sie wieder die zentrale Stellung des alle Ebenen durchdringenden und alle Beteiligten prägenden Rechtsdenkens für die Frühe Neuzeit belegt. Nach Diehl entfalteten sich die Herrschaftskonflikte nicht nur durch "physische Übermächtigung" der Untertanen, sondern vor allem qua Juridifizierung, das heißt durch Normsetzung in Policeyordnungen und als Rechtstreit vor Gericht. Im Ergebnis betont er das Ende der - lokalen - adligen Eigenmacht zugunsten des Landgrafen. Ob man hier, erst auf Seiten der von Boyneburg, dann auf Seiten des Landgrafen, jedes Mal Elemente der "Staatswerdung" vorliegen hat, lässt sich dagegen diskutieren. Diehl geht von einem sehr stark juristisch geprägten Staatsbegriff (zentralisierte Gebietsherrschaft, Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol) aus. Seine Untersuchung zeigt aber zunächst einmal nur den Abschichtungsprozess innerhalb des Adels, der die von Boyneburg in die Landsässigkeit herabdrückt und den hessischen Grafen zum Landesherrn erhebt. Diese Querelen innerhalb der adeligen Herrschaftsschicht können unabhängig von jeder Staatswerdung analysiert werden. In einem historischen Begriff von Staatsbildung sollte sich der Blick nicht nur auf die Zentralisierung oder die Untertanen richten, sondern auch das gegen den Adel und gegen die regierenden Fürsten gerichtete aggressive Potential der Staatssemantik berücksichtigen. Diese Anmerkungen sollen jedoch den hohen Wert der vorliegenden, äußerst sorgfältig gearbeiteten Untersuchung nicht schmälern. Allenfalls eine etwas energischere Straffung der Druckfassung und ein Register hätte man sich gewünscht.

Axel Flügel