Christopher Dowe: Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie (= Mensch - Zeit - Geschichte), Stuttgart: W. Kohlhammer 2011, 159 S., 7 s/w- Abb., ISBN 978-3-17-021491-0, EUR 15,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Richard van Dülmen (Hg.): Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003
Bernhard Schneider (Hg.): Konfessionelle Armutsdiskurse und Armenfürsorgepraktiken im langen 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009
Todd H. Weir: Secularism and Religion in Nineteenth-Century Germany. The Rise of the Fourth Confession, Cambridge: Cambridge University Press 2014
Matthias Erzberger gehört zu den umstrittensten Politikern der Kaiserzeit und der Anfangsphase der Weimarer Republik. Sein Name ist unlösbar verknüpft mit der Unterzeichnung der deutschen Kapitulation im Wald von Compiègne. Nicht zuletzt auf Erzbergers Person zielt die Dolchstoßlegende, die danach rechtskonservative und militärische Kreise diffamierend einsetzten. Christopher Dowe, Kurator der Ausstellung des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg in Erzbergers Geburtshaus in Münsingen-Buttenhausen, beginnt seine Lebensbeschreibung des Zentrumspolitikers deshalb mit einem Kapitel "Umkämpfte Erinnerung". Erzbergers Bild in der Geschichte schwankt zwischen der Charakterisierung als politischer Märtyrer und antisemitischer Polemik. Teile der Zentrumspartei und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold hielten in der Weimarer Republik die Erinnerung an ihn hoch, unter anderem durch eine Maria als der Königin des Friedens geweihten Kapelle an Erzbergers Todesstelle in Bad Griesbach und regelmäßige Kranzniederlassungen an seinem Grab in Biberach. Die Erinnerung brach in nationalsozialistischer Zeit ab. Eine erste Biographie aus der Feder von Klaus Epstein erschien 1957 zunächst auf Englisch. Erst in den letzten 30 Jahren wurde die Memorialkultur wieder aufgenommen.
Erzbergers Weg in die Politik war für das Kaiserreich ungewöhnlich. Nach dem Besuch des Lehrerseminars arbeitete er zunächst als Volksschullehrer. Mit 19 Jahren machte er das erste Mal auf lokaler politischer Ebene von sich reden. Der Autodidakt schrieb regelmäßig in der schwäbischen katholischen Presse, bis er 1896 eine Stelle beim "Deutschen Volksblatt" angeboten bekam. Erzberger kämpfte gegen die politische Diskriminierung der katholischen Minderheit in Württemberg, setzte sich für den Vereinskatholizismus ein und engagierte sich als Arbeitersekretär für die Belange der katholischen Arbeitervereine.
Als er 1903 in den Reichstag gewählt wurde, gab er seine bisherigen Tätigkeiten auf und zog nach Berlin, ohne den regelmäßigen Kontakt mit seinem schwäbischen Wahlkreis aufzugeben; Erzberger war einer der ersten Vertreter des Typus Berufspolitiker. Er verstand es, für sich selbst Werbung zu betreiben. Als Mitglied der Budgetkommission kritisierte er die Kolonialpolitik. Immer wieder musste er erfahren, dass seine katholische Herkunft und Positionierung ihm Widerstand einbrachten. Innerparteilich lehnte Erzberger im Zentrumsstreit zwar die integralistische Richtung ab, stützte sich aber doch auf manche Vertreter, ohne sich in die theologischen Fragen einzumischen. Er behielt eine Distanz zu bildungsbürgerlichen Parteimitgliedern und ihren Vorstellungen.
Der von Kaiser Wilhelm II. ausgerufene "Burgfrieden" bestimmte die Politik Erzbergers in den Jahren des Ersten Weltkriegs. Zwar wich seine anfängliche Kriegsbegeisterung und Verherrlichung des Militarismus bald einer realistischeren Einschätzung der Situation. Trotzdem verfocht Erzberger gerade in dieser Zeit zwei wichtige konfessionelle Ziele, nämlich die Parität in Militär und Verwaltung sowie die Aufhebung des aus dem Kulturkampf stammenden Jesuitengesetzes.
Seit 1916 engagierte sich Erzberger, um zu einer Friedensregelung zu gelangen. Nach dem Scheitern der päpstlichen Friedensnote war er selbst an geheimen Verhandlungen beteiligt, zunächst mit dem Ziel der Gründung eines eigenen litauischen Staates, dann in Verfolgung der Idee eines Völkerbundes. Als Koordinator der Auslandspropaganda besaß er die notwendigen Kontakte und Informationen. Seit dem Frühjahr 1918 engagierte er sich für eine stärkere Position des Parlaments und eine Änderung des politischen Systems. Als Mitglied des Kriegskabinetts gehörte Erzberger zu denen, die in den letzten Wochen des Zusammenbruchs politische Verantwortung trugen. Dass er die Waffenstillstandsverhandlungen führte und im Wald von Compiègne die Kapitulation der deutschen Armee unterzeichnete, machte ihn zum meistgehassten Politiker der Umbruchszeit.
Im Ringen um eine neue Gesellschaftsform war Erzberger "ein wichtiger Hoffnungsträger" (103) für die Katholiken. Unverständnis erntete er jedoch, weil er für eine Koalition mit der Sozialdemokratie eintrat, deren Kirchenpolitik gerade in den Monaten nach dem Zusammenbruch der Monarchie für Beunruhigung sorgte. Der eigentliche Beitrag Erzbergers zur Weimarer Republik lag in der Reform des Steuersystems und dem Aufbau einer einheitlichen Reichsfinanzverwaltung. Das "Ziel der Stärkung des Reiches" (109) stand ihm dabei vor Augen. Schließlich war Erzberger klar, dass die eigentlichen Ursachen für die Schuldenkrise und die Inflation in den Kriegsausgaben lagen. Innerhalb weniger Monate gelang es ihm, die Reichsfinanzreform durch das Parlament zu bringen. Neben der Zentralisierung strebte er aber auch eine Dezentralisierung der Kulturpolitik und Verwaltung an.
In den Verhandlungen um den Versailler Vertrag vertrat Erzberger die Position, Deutschland müsse die Regelungen akzeptieren. Seiner Ansicht nach würden sie in den folgenden Jahren sukzessive erleichtert werden. Doch fand er dafür wenig Verständnis, im Gegenteil setzten heftige Pressekampagnen gegen ihn ein. Erzbergers politisches Ende wurde durch eine Artikelserie seines ehemaligen Kabinettskollegen, des DNVP-Politikers Karl Helfferich, eingeläutet, der ihn der Unwahrhaftigkeit und Vermischung politischer und persönlicher Interessen bezichtigte. Helfferich benutzte den daraufhin angestrengten Beleidigungsprozess als Plattform zur moralischen Hinrichtung Erzbergers, der zwar freigesprochen, aber in den Medien als Verlierer dargestellt wurde. Seine Ermordung durch zwei Mitglieder der rechtsextremen Organisation Consul am 26. August 1921 verhinderte seine Rückkehr in die Reichspolitik.
Erzberger war, wie Dowe in seiner leicht geschriebenen Biographie hervorhebt, ein politischer Mensch. Halt fand er in seinem katholischen Glauben. Religion prägte seinen Alltag. "Sein Glauben an Gott und eine göttliche Wahrheit, die jenseits dessen liegt, was der Mensch begreifen kann, gaben ihm angesichts seines enormen politischen Einsatzes einen gewissen Schutz davor, als Persönlichkeit von der Politik verzehrt zu werden." (153) Dowes Verdienst liegt darin, Erzberger aus seiner weltanschaulichen Verwurzelung heraus dargestellt zu haben. Kompromisse und Irrwege, wie etwa das zu lange Festhalten am innenpolitischen "Burgfrieden", erhalten so ihre Einordnung in eine Person, die für die Rechte der katholischen Kirche nach dem Kulturkampf-Trauma kämpfte. Politisch jedoch war das Scheitern Erzbergers ein Fanal für die nie bewältigten Geburtsprobleme der Weimarer Demokratie.
Joachim Schmiedl