Matthias Georgi: Heuschrecken, Erdbeben und Kometen. Naturkatastrophen und Naturwissenschaften in der englischen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts, München: August Dreesbach Verlag 2009, 395 S., ISBN 978-3-940061-24-9, EUR 17,50
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Das 18. Jahrhundert bzw. das Zeitalter der Aufklärung stellen in Bezug auf die gelehrten Diskurse um die Natur im Allgemeinen sowie um Naturkatastrophen im Speziellen eine markante Übergangszeit dar. War die Frühe Neuzeit stark vom Deutungsmuster geprägt, Naturkatastrophen seien eine Strafe bzw. Prüfung Gottes oder ein Fingerzeig Gottes zur Umkehr, so begann spätestens mit den Physikotheologen eine Entwicklung, die religiöse Grundsätze mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Verbindung zu setzen trachtete. Die historische Forschung hat sich der gelehrten Diskurse um Naturkatastrophen des 18. Jahrhunderts in den letzten Jahren intensiv angenommen, in erster Linie der zahlreichen Meinungen und Schriften zum Erdbeben von Lissabon (1755) [1] oder zur Sturmflut an der Nordsee von 1717. [2] Besonders dicht ist die Zahl neuerer Untersuchungen für die Schweiz: zum Universalgelehrten Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) [3], zu Albrecht von Haller (1708-1777) und seinem Korrespondentennetz [4] oder zu den gelehrten Erdbebendiskursen. [5]
Auch die 2007 an der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommene Dissertation von Matthias Georgi widmet sich nicht den Naturkatastrophen zur Mitte des 18. Jahrhunderts selbst, sondern den öffentlichen Diskursen in England um weit entfernt oder gar nicht eingetretene Katastrophen. Den Untersuchungsbeginn bildet dabei die Furcht vor dem Übergreifen einer Heuschreckenplage in Südost- und Mitteleuropa im Jahr 1748 auf England, das Ende der nicht eingetretene Einschlag des Halley'schen Kometen auf die Erde, der von der Wissenschaft für 1759 vorausgesagt wurde. Dazwischen liegen drei prognostizierte, aber nur kaum spürbare Erdbeben in England von 1750 oder das verheerende Seebeben von 1755, das Lissabon und andere Städte Portugals weitgehend zerstörte.
Georgi interessiert erstens die Bedeutung der Naturwissenschaft in der Öffentlichkeit. Da gerade nach Katastrophen umfangreiche publizistische Debatten ausbrachen, in denen verschiedene Erklärungsmodelle für die jeweiligen Ereignisse präsentiert wurden, stellen sich die Fragen, welche Bedeutung die Publizistik für die Entstehung und Verbreitung von Erkenntnissen hatte, welche Relevanz hier die Naturwissenschaften hatten, inwiefern diese Erklärungen in der Öffentlichkeit akzeptiert wurden und wie sie in das theologische Weltbild integriert wurden (17). Zweitens untersucht Georgi die Regeln der öffentlichen Wissenschaft. So weisen die verschiedenen publizierten Naturbeobachtungen eine Reihe von Übereinstimmungen auf, was die Sprache, die Beschreibung von Reaktionen sowie die Verwendung von Metaphern und Vergleichen betrifft (17). Drittens geht er der Frage nach, ob man Wissenschaft und Öffentlichkeit überhaupt trennen könne, das heißt ob die Beobachtungen und Theorien in Zeitungen, gelehrten Magazinen, Pamphleten, Gedichten etc. anders dargestellt wurden als in wissenschaftlichen Fachorganen wie den Philosophical Transactions (18). Viertens analysiert er die wissenschaftliche(n) Öffentlichkeit(en) und fragt, ob sich die in seiner Fallstudie vertretene Öffentlichkeit mit dem von der Forschung favorisierten pluralistischen Öffentlichkeitsmodell beschreiben lasse (18).
Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil (41-180) werden die Medienereignisse im Behandlungszeitraum medien- und ideengeschichtlich untersucht, beginnend beim schon erwähnten Londoner Erdbeben von 1750, das eine Massenflucht aus der Millionenstadt auslöste. Georgi geht dabei auch mikrogeschichtlich vor, indem er beschreibt, wie sich die Nachrichtenlage Tag für Tag änderte, sodass schließlich daraus ein Medienereignis werden konnte. Interessant ist dabei, dass zwar einige Wochen intensiv in den Medien über das Erdbeben selbst und dessen Ursachen diskutiert wurde, das Thema dann aber wieder rasch verschwand. Im nächsten Schritt wird die publizistische Darstellung der Erdbebentheorien anlässlich der Londoner Erdbeben mit ihrer Darstellung während der Serie von Erdbeben 1755/56 verglichen: Dabei spielten Theorien von unterirdischen Explosionen, einem "airquake" oder auch elektrischen Erdbeben eine führende Rolle, indem man davon ausging, dass Erdbeben und Gewitter dieselben Gase als Auslöser hätten. Weiters wurde auch die Rückkehr des Halley'schen Kometen von 1759 zum Medienereignis. Anders als in früheren Jahrhunderten sah man darin aber nicht mehr die Ursache für den Tod eines Königs, eine Naturkatastrophe oder Seuche, sondern man fürchtete, dass der Komet auf der Erde einschlagen konnte. Aufbauend auf Sara Schechner Genuth, unterstützt Georgi die These, dass nicht die Fortschritte in den Naturwissenschaften diesen Deutungswandel ausgelöst hätten, sondern darin ein Abgrenzungsversuch der Oberschicht von der Volkskultur zu sehen sei: Kometen wurden im gebildeten Bürgertum als Omen jetzt abgelehnt (98f.). Schließlich untersucht Georgi anhand von gedruckten Predigten die Bedeutung der Naturwissenschaften im Rahmen der theologischen Deutung der Naturkatastrophen. Theologie und Naturwissenschaft ergänzten sich dabei zu einem Gesamtbild, standen aber auch zueinander in Konkurrenz. Dies führte sogar so weit, dass anlässlich der Londoner Erdbeben seitens des Klerus die Angst vor dem Aufkommen einer Deistenbewegung sowie einer "diffusen Naturalisten- oder Philosophenbewegung" geschürt wurde, eine Panikmache, die zumindest zum Teil frei erfunden sein dürfte (147).
Der zweite Teil (183-288) ist hingegen diskursanalytisch ausgerichtet. Dabei werden die Texte auf wiederkehrende Muster geprüft, was wiederum Aufschluss über die Konstruktion der öffentlichen Naturwissenschaft geben kann. Georgi verwendet zu diesem Zweck Studien zur historischen Epistemologie von Lorraine Daston und kombiniert diese mit den wissenschaftshistorischen Ansätzen zur Sozialgeschichte der Wahrheit von Steven Shapin und Simon Schaffer sowie mit der Theorie des Nachrichtenwertes von Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge. Anhand der Schilderung von Menschen und ihren Handlungsmustern sowie typischen Elementen der Naturbeschreibungen wird exemplarisch und theoretisch zusammengefasst, welche Bedingungen Texte über Naturkatastrophen erfüllten, wenn sie in England in der Mitte des 18. Jahrhunderts publiziert wurden.
Die medien- und ideengeschichtliche sowie diskursanalytische Dissertation von Matthias Georgi liefert nicht nur ein interessantes Stück Wissenschaftsgeschichte, sondern gewinnt gerade auch durch die Untersuchung der Rolle der Publizistik bei der Verbreitung von Endzeiterwartungen besondere Aktualität: So wie einst nach dem nicht erfolgten Einschlag des Halley'schen Kometen werden es vielleicht Anfang 2013 wohl auch alle besser gewusst haben, dass die Erde doch nicht gemäß der Maya-Prophezeiungen und ihrer Nachfolger untergegangen sei.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Wolfgang Breidert: Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen, Darmstadt 1994; Horst Günther: Das Erdbeben von Lissabon erschüttert die Meinungen und setzt das Denken in Bewegung, Berlin 1994 [Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 2005]; Ulrich Löffler: Lissabons Fall - Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts (= Arbeiten zur Kirchengeschichte; 70), Berlin / New York 1999.
[2] Manfred Jakubowski-Tiessen: Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit (= Ancien Régime. Aufklärung und Revolution; 24), München 1992.
[3] Michael Kempe: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die Sintfluttheorie (Frühneuzeit-Forschungen; 10), Epfendorf 2003.
[4] Martin Stuber / Stefan Hächler / Luc Lienhard (Hgg.): Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung (= Studia Halleriana; 9), Basel 2005, und andere.
[5] Monika Gisler: Göttliche Natur? Formationen im Erdbebendiskurs der Schweiz im 18. Jahrhundert, Zürich 2007.
Christian Rohr