Rezension über:

Stefanie Samida (Hg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert (= Bd. 21), Bielefeld: transcript 2011, 321 S., ISBN 978-3-8376-1637-8, EUR 29,80
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Rezension von:
Andreas Daum
Washington, DC
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Daum: Rezension von: Stefanie Samida (Hg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 3 [15.03.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/03/19365.html


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Stefanie Samida (Hg.): Inszenierte Wissenschaft

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Es geht in diesem Band um Medien, Praktiken und Akteure der Inszenierung von Wissenschaft, wobei dieser Dreischritt auch die Beiträge ordnet. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Renate Miller-Gruber zur Antikenrezeption in deutschen Zeitschriften um 1800 und Ludwig Morenz zum selbsternannten Ägyptologen Ulrich Seetzen), konzentrieren sich die Aufsätze auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dafür sprechen gute Gründe: nach 1860 expandierte der Medienmarkt, technologische Innovationen erleichterten die auf ein Massenpublikum zielende Präsentation von Wissen, und die Wissenschaften selbst etablierten sich als gesellschaftlich gefragte Deutungsinstanzen. Allerdings darf man fragen, ob es nicht lohnenswert wäre, stärker nach Verklammerungen mit Inszenierungspraktiken der vordergründig als "früh"-neuzeitlich bezeichneten Epoche zu fragen (das anatomische Theater wäre ein Beispiel) und umgekehrt den Bogen in die Epoche des Kinos und der staatlichen Wissenschaftspropaganda zu schlagen. Innovativ ist hingegen im vorliegenden Band die Betonung auf Beispiele aus der Archäologie und Vor- bzw. Frühgeschichte; sie boten alles andere als antiquarische Praktiken und wirbelten gehörigen Staub in der Medienlandschaft des späten 19. Jahrhunderts auf.

Was aber sind die Besonderheiten der "Inszenierung" von Wissenschaft, im weiten Spektrum der historisch zu beobachtenden Versuche, Wissenschaft zu präsentieren und als öffentliches Gut zu dramatisieren? Hier bleibt der Band vage, und die Begriffe Inszenierung und Popularisierung erscheinen austauschbar. Die einleitend genannten Vorgaben zum Performativen als einer bewusst auf ein Publikum zielenden Praxis, die Wirkung erzielen will, sind blass. Dieser Umstand ist auch darin begründet, dass die einschlägige und immer dichter werdende historische Forschung zu Inszenierungspraktiken - von der Theatralität des 17. und 18. Jahrhunderts und den Shows of London (Richard Altick) zu der Propagierung der Röntgentechnologie und der Reel Nature (Gregg Mitman) im frühen 20. Jahrhundert - souverän umgangen werden. Dass das Thema gar "bislang in der wissenschaftlichen Diskussion völlig ausgeblendet wurde" (16), ist daher eine unhaltbare und wenig ergiebige Prämisse.

Umso lohnender ist die Lektüre einer ganzen Reihe der hier versammelten Einzelbeiträge. Besonders überzeugen jene Essays, die sich in einer Feinanalyse auf solche Praktiken von medialer Wissensdarstellung konzentrieren, bei denen die erhoffte Beeinflussung des Publikums stets mitgedacht wurde und diese Intention die Materialität des Dargestellten veränderte. So untersucht Angela Schwarz Wissenschaftlerportraits auf Reklamebildern für Liebig-Extrakte und die Firma Stollwerck; dies ist auch einer der wenigen Beiträge, der explizit ökonomischen Interessen akzentuiert. Marianne Sommer führt die Leser hinter die Kulissen des "Machens" von Wissenschaftsbildern. Sie demonstriert überzeugend den Aufwand und die Vielzahl von biologischen, sozialen und politischen Überlegungen, unter denen die naturhistorischen, musealen Wandgemälde des Amerikaners Charles R. Knight und die prähistorischen Skelettarrangements seines Kollegen Henry F. Osborn um 1900 entstanden. Carsten Kretschmann veranschaulicht, wie das Auffinden von Massen von Fossilien in Deutsch-Ostafrika im Zuge der Tendaguro Expedition 1909-13 wissenschaftlich letztlich enttäuschte, aber durch das Zusammenspiel von staatlichen, akademischen und literarischen Akteuren medial theatralisiert wurde. Einen Glanzpunkt setzt die Literaturhistorikerin Barbara Thums mit ihrem Essay zum literarischen Realismus in Deutschland. Sie zeigt, wie in Texten von Wilhelm Raabe, Theodor Vischer und Theodor Fontane nicht nur archäologische Funde und Debatten der Zeit thematisiert werden, sondern die Leser selbst die Praxis des Ausgrabens, Bergens und Deutens im Verstehen der Erzählungen nachvollziehen.

Andere Beiträge fassen die bekannten Forschungen der AutorInnen, insbesondere zu den biologischen Wissenschaften, zusammen. Christoph Gradmann hebt die Popularisierung der Bakteriologie im Sinne einer Dramatisierung von Krankheitserregern und vermeintlichen Lösungen hervor. Alexander Gall warnt zu Recht davor, die Tierdarstellungen in Brehms Tierleben und der Familienzeitschrift Gartenlaube als anthropomorphisierend und im Sinne eines reduktionistischen Darwinismus, entlang der Formel vom Kampf ums Dasein, zu deuten. Eva-Marie Engels kommt in ihrem differenzierten Überblick zu der Darwinrezeption in Deutschland, der einen interessanten Seitenblick auf die auf Harmonie bedachten russischen Wissenschaftler einschließt, nicht zufällig ganz ohne die Kategorie des Inszenatorischen aus. Engels Fokus auf die Printmedien wird ergänzt durch Nils Müller-Scheeßel, der die erzieherischen Funktionen von Objekten, die auf den Weltausstellungen Authentizität für ein evolutionistisches Weltbild erzeugen sollten, betont.

Vor allem um self-made Akteure der Medien- und Wissenschaftslandschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts geht es im abschließenden Teil. Wieder interessieren hier vor allem die individuellen Geschichten und geht es weniger darum, gängige Schlagworte wie Heroisierung und Medialisierung in analytischen Kategorien zur Untersuchung von Performanz zu verfeinern. Immerhin verband alle Protagonisten die - nicht immer erfolgreiche - Suche, ja Sucht, nach öffentlicher Wertschätzung: so bei dem journalistischen Vagabunden Henry M. Stanley, einem Tausendsassa der Camouflage, der den Afrikaforscher Livingstone aufspürte (Manfred Eggert); bei dem Mediziner Robert Koch und dem archäologischen Autodidakten Heinrich Schliemann (Stefanie Samida); und bei Gustaf Kossinna, der 1909 die Deutsche Gesellschaft für Vorgeschichte gründete (Ulrich Veit).

Neben den Stärken einzelner Beiträge fällt an diesem Band auf, dass Publikum und Rezipienten weiterhin eine qualitativ kaum charakterisierte Größe bleiben, gewissermaßen die conditio sine qua non, die keiner wirklich kennt. Ebenso stehen die Technologie des Inszenierens - von der genutzten Printtechnik bis hin zum Einsatz von Farbe - außerhalb des Scheinwerferkegels. Gleiches gilt, von wenigen Beispielen abgesehen, für die kommerziellen und Profitinteressen aller Beteiligten. Das Spektrum solcher zentralen Aspekte ist jüngst überzeugend von David Ciarlo in seiner Monografie zu Advertising Empire: Race and Visual Culture in Imperial Germany (2011) eingefangen worden. Mit diesen Defiziten und dem Fehlen eines konzeptionellen Rahmens, der es erlauben würde, die individuellen Befunde in eine vergleichende und analytisch schärfere Kategorisierung von Inszenierung zu setzen, markiert der vorliegende Band allerdings lohnenswerte Fluchtlinien zukünftiger Forschungen.

Andreas Daum