Gerhard Seewann: Geschichte der Deutschen in Ungarn. Bd. 1: Vom Frühmittelalter bis 1860 (= Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung; Bd. 24/I), Marburg: Herder-Institut 2011, XVI + 540 S., 4 Kt., ISBN 978-3-87969-373-3, EUR 39,00
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Eine moderne, multiethnische Forschungsansätze anwendende, gegen das dominante nationale historische Narrativ anschreibende Minderheitengeschichte, wie sie Gerhard Seewann anstrebt, ist nicht nur für die Deutschen in Ungarn ein Desiderat. Der Autor will in seiner auf zwei Bände angelegten Gesamtdarstellung ambitioniert für das Fachpublikum, insbesondere aber die deutsche Minderheit in Ungarn "in Form eines Handbuches den Stand des Wissens" präsentieren und "durch die Darstellungsweise die Vergleichbarkeit mit der Geschichte anderer europäischer Minderheiten" gewährleisten und schließlich eine "Wissensgrundlage" für die didaktische Aufbereitung anbieten (IX). Die Schwierigkeiten sind ihm bewusst: der sich ändernde staatlich-territoriale Zuschnitt, die im historischen Kontext sich ändernde Gruppendefinition (und das fehlende gemeinsame historische Narrativ), der wechselnde Gruppenstatus, die unterschiedliche Dichte und Qualität der Vorarbeiten sowie die fehlende Einordnung in Strukturen und Entwicklungen der ungarischen und der europäischen Geschichte. Die Zäsur zwischen den Teilbänden ist mit dem Jahr 1860 klug gewählt: Nach dem Zusammenbruch des Neoabsolutismus beginnen die Debatten, die 1867 zum Ausgleich mit Österreich führten, den Beginn des modernen ungarischen Nationalstaats.
In der Einleitung vergleicht Seewann die Siedlungsbewegungen in Ungarn im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Zum Mittelalter fasst er den Forschungsstand für Siebenbürgen, die Zips und Oberungarn sowie die "Städte deutschen Rechts" zusammen und umreißt "Deutsch-ungarische Wirtschaftsbeziehungen, Bergbau und Technologietransfer". Das Kapitel über die "Türkenzeit 1526-1699" beginnt mit der Reformation in den "deutschen Städten" - ein problematischer Begriff, solange man die Qualität von "deutsch" nicht näher bestimmt - im habsburgischen, "königlichen" Ungarn und im Fürstentum Siebenbürgen, bleibt aber hinsichtlich des osmanischen Ungarns weit hinter den ihm wohl noch nicht zugänglichen Forschungsergebnissen Markus Kollers [1] zurück.
Das Kapitel "Das Jahrhundert der Ansiedlung, 1711-1790" steht mit Recht im Zentrum der Darstellung und ist systematisch angelegt. Der Forschungsstand ist regional uneinheitlich. Seewann greift in größeren Teilen auf das Standardwerk von Karl-Peter Kraus [2] zurück. Inwieweit Kraus' Ergebnisse für die grundherrschaftliche Siedlung im ehemals osmanischen Ungarn generalisierbar sind, bleibt nach dem Forschungsstand unsicher. Die mariatheresianische Urbarialreform, die Seewann unter der Überschrift "Staat als Akteur" behandelt, betraf auch die adlige Grundherrschaft, ebenso die "Reform von oben und Wirkung von unten in Richtung Nationsbildung" (176-180), bei der die Rolle der Städte und Märkte stärker herauszuarbeiten wäre. Die Zwangsmigrationen betrafen wiederum, soweit Nicht-Katholiken betroffen waren, wesentlich das politisch und administrativ separate, konfessionell eher tolerante (Groß-)Fürstentum Siebenbürgen. Die "Bilanz der Siedlungsmigration im 18. Jahrhundert" hätte stärker auf die politischen Einheiten bezogen werden müssen. Informationen zum Schulwesen der Deutschen im 18. Jahrhundert reicht Seewann als Unterkapitel nach.
Im fünften Kapitel zur ungarischen Nationalbewegung 1790-1848 unternimmt der Autor einen Perspektivenwechsel: In das Zentrum der Darstellung treten das deutschsprachige Bürgertum und seine nationale Identifikation zwischen dem - in das 17. Jahrhundert zurückreichenden - Hungarus-Bewusstsein und der politischen und später kulturell-sprachlichen Magyarisierung im Reformzeitalter (seit 1825) und vor allem in der Revolution 1848, deren Nationalitätenpolitik Seewann im Folgekapitel mit besonderen Hinweisen auf die Siebenbürger Sachsen und das deutsche Bürgertum einschließlich der Petitionen der Banater Schwaben an den Kaiser gegen die Einrichtung der "Woiwodschaft Serbien" 1849 behandelt.
Den "deutschungarischen Identitätsdiskurs 1799-1848" stellt Seewann für die Zeit der franziszeischen Reaktion und das ungarische Reformzeitalter n den Mittelpunkt seiner Darstellung und verbindet ihn mit Stephan Ludwig Roths "Sprachkampf in Siebenbürgen" (1842), den er - wie überhaupt die Lage der Siebenbürger Sachsen - zu wenig differenziert in das Diskursreferat einführt. Die Landbevölkerung behandelt er, was die konkreten Auswirkungen der Nationalitätenpolitik im Vormärz (die knappen Hinweise zum Schulwesen und zur Kirche sowie zu den Folgen des Sprachgesetzes von 1844 auf die Schulpolitik reichen nicht aus) und der Politik der Revolutionsregierung 1848 einschließlich der Reaktion von Slowaken, Serben, Rumänen und Siebenbürger Sachsen betrifft, nicht, das "deutsche Bürgertum" nur für die Zentren Pressburg und Ofen-Pest. Die - unter dem Aspekt der Bauernbefreiung sicherlich nicht uninteressante - Haltung der deutschsprachigen Landbevölkerung bleibt außerhalb der Perspektive.
Das abschließende Kapitel "Die Nationalitätenpolitik des Neoabsolutismus" beginnt mit einem Überblick zum politischen Rahmen, geht insbesondere auf das Schulwesen und die Sondersituation im Kronland "Woiwodschaft Serbien" ein und resümiert abschließend die Ergebnisse. Nach einem Rekurs auf die Debatte über die deutsche Einwanderung in den deutschen Staaten 1842-1848 referiert Seewann die Diskussion über die Einwanderung in den 1850er Jahren. Nach der Zusammenfassung von Stimmen zur Binnenkolonisation vor 1848 behandelt er abschließend in einem Kurzkapitel die - ökonomisch durch die Bodenpreise forcierte - Binnenkolonisation nach Slawonien und Syrmien, also die von der (hier allgemein als Tradition zu wenig problematisierten) "Volksforschung" so bezeichnete "Tochtersiedlung".
36 anderenorts bereits publizierte Quellentexte, auf die er sich im Text nicht direkt bezieht, hat Seewann im Anhang zusammengestellt. Im Quellen- und Literaturverzeichnis nennt er unter "Quellen" publizierte Texte unterschiedlichster Art und Qualität von Quelleneditionen über Erinnerungen bis zu Stalins "Marxismus und nationale Frage". Unter "Literatur" findet der Leser auf 106 Druckseiten mehr als 1600 Titel, davon eine größere Zahl eindeutig für den zweiten Teilband. Ein Personen- und ein "Toponymenregister" erschließen den Text zuverlässig, wobei die Ortsnamenkonkordanz unpraktischerweise nicht in das geografische Register eingearbeitet worden ist. Vier großmaßstäbliche Karten bieten zum Abschluss nur grobe Orientierung, jedoch keine Hilfe für die regional sehr differenzierte Information (zum Beispiel 154-167).
Der Text wirkt unfertig. Seewann hat ihn ordentlich aus sehr unterschiedlicher, vor allem deutsch- und ungarischsprachiger Literatur kompiliert. Er versucht erfolglos, einen gesamtungarländischen Erzählstrang zu entwickeln. Was bei der bis 1848 vertikal wie horizontal komplexen Feudalstruktur schon für eine der eingangs genannten Zielgruppen schwierig wäre, ist in der angestrebten Multiperspektivität Epochen übergreifend ohne verbindenden strukturgeschichtlichen Ansatz wohl unmöglich. Zudem überfordert schon die im Literaturverzeichnis angeführte Textmenge vermutlich jeden einzelnen Autor. Monita finden sich immer wieder im Detail: Der Terminus "deutsch" müsste differenzierter gebraucht beziehungsweise immer wieder neu definiert, Siebenbürgen nicht weitgehend aus der Perspektive des ungarischen Einheitsstaats nach dem Ausgleich von 1867 einvernahmt werden. Die Ansiedlung in Slawonien im 18. Jahrhundert, die in das vierte Kapitel gehört hätte, behandelt Seewann nur am Ende als Vorgeschichte der Binnenwanderung, wie überhaupt immer wieder, wohl nach der benutzten Literatur, Probleme an Stellen referiert werden, an die sie nach der Chronologie des Gesamtdiskurses nicht gehören. Manche Formulierungen wirken flüchtig, so die Klassifizierung der Siebenbürger Sachsen als "fremdethnische Gruppe" (58), die "Luxemburger Kaiserdynastie" (46), das "Stadtrecht aus Magdeburg" (40) und vieles andere mehr bis zu falschen Formulierungen wie "Im Gegensatz zu Siebenbürgen verfügten die Zipser Sachsen über kein geschlossenes Siedlungsgebiet" (29). Das Manuskript wurde offensichtlich unter Zeitdruck abgeschlossen und in eigentlich unfertiger Form zum Druck gegeben.
Eine sorgfältige, allerdings zeitaufwändige Redaktion hätte hier abhelfen können. Flüchtigkeitsfehler wie "karolingisch" statt "karolinisch" für die Zeit Kaiser Karls (117, 248) wären vermeidbar gewesen, die Formulierungen hätten vielfach präzisiert werden können. Die Kennzeichnung der Kanzleischrift als "deutsche Schrift (Sütterlin) " (133) mehr als ein Jahrhundert vor Ludwig Sütterlin passt in das Bild. Die heutigen Ortsnamen werden - wohl bei der ersten Nennung - nach einem Querstrich mechanisch beigefügt. Die deutsche Entsprechung zu Prešov wäre Eperies, "Preschau" hieß die Stadt deutsch nur 1939-1945. Die grafische Gestaltung wirkt einfallslos. Die in eckigen Klammern in Kursivschrift eingefügten, erläuternden Einschübe (3, 6, 54, 101, 102) irritieren. Abbildungen fehlen überhaupt.
"Gut Ding will Weile haben", sagt der Volksmund. Diese Weile hat hier offensichtlich gefehlt. Vom zweiten Teil, mit dessen Thematik Seewann sich seit Jahren intensiv befasst hat, darf man mehr erwarten.
Anmerkungen:
[1] Markus Koller: Eine Gesellschaft im Wandel. Die osmanische Herrschaft in Ungarn im 17. Jahrhundert (1606-1683). Stuttgart 2010 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 37).
[2] Karl-Peter Krauss: Deutsche Auswanderer in Ungarn. Ansiedlung in der Herrschaft Bóly im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2003 (Schriftenreihe des Instituts für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, 11).
Wolfgang Kessler