Beate Störtkuhl / Jens Stüben / Tobias Weger (Hgg.): Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Bd. 41), München: Oldenbourg 2010, 671 S., ISBN 978-3-486-59797-4, EUR 69,80
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Die Geschichte der deutschen Minderheiten im östlichen Europa in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg steht wieder stärker im Interesse der Forschung. Sie hat aber bislang kaum die Formen der Verarbeitung von Kriegserfahrungen und -folgen sowie der Zukunftsgestaltung unter national veränderten Bedingungen im Beziehungsgefüge zu den östlichen Nationen in den Blick genommen. Hierzu liegt nun ein interdisziplinär, vergleichend angelegter und mit 36 Einzelbeiträgen recht umfangreicher Sammelband vor, Ergebnis einer Tagung des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa anlässlich seines 20-jährigen Bestehens im Jahr 2009 in Oldenburg. Vorträge aus einer nachfolgenden Ringvorlesung an der Universität Oldenburg ergänzen den Band. Beteiligt sind Historiker, Architektur- und Kunsthistoriker, ferner Denkmalpfleger, Medien- und Filmhistoriker, Politologen, Germanisten, Volkskundler, Geographen, Ethnologen, Literatur-, Kultur- und Theaterwissenschaftler sowie Archivare.
Die Neuordnung der staatlichen Grenzen im östlichen Europa nach Kriegsende schuf neue Staaten und riss oft gewachsene ethnische Verbünde und territoriale Einheiten auseinander. Damit erfüllten sich zwar vielerorts lang gehegte nationale Hoffnungen, jedoch veränderten sich gleichzeitig die Lebensbedingungen der Deutschen, die sich jetzt häufig in einer Minderheitenrolle wiederfanden. Dies begünstigte revisionistische Bestrebungen, etwa in dem um weite östliche Gebietsteile verkleinerten Deutschen Reich gegenüber Polen. Sie mündeten in einen "Grenzkampf" auf verschiedensten Ebenen und führten zu einer dauerhaften Belastung der diplomatischen Beziehungen. Dieser Problematik widmen sich zahlreiche Beiträge. In sechs Schwerpunkten werden "Geschichtspolitische Strategien", "Historische Gedächtnisorte"", "Geschichtliche Erfahrungen und Identitäten", ferner Themen wie "Loyalität, Segregation, Autonomie", "Wissenschaft und Wissenschaftspolitik" sowie "Tradition und Moderne" vorgestellt.
Jochen Oltmer eröffnet im Eingangskapitel den Band mit einer Analyse der Rolle der deutschen Minderheiten in der Außenpolitik der Weimarer Republik, die übergeordneten politischen Interessen und Kalkülen untergeordnet waren. Diese Politik zielte vor allem darauf, eine Rückwanderung ins Reichsgebiet zu verhindern; die Minderheiten sollten eine Art "politisches Pfand" vor Ort bleiben. Małgorzata Omilanowska beschreibt die Bemühungen des neuen polnischen Staates, sich mittels einer "Meerespolitik" eine national geprägte, mystische Ostseeidentität zuzulegen. Wie die polnischen Denkmalbehörden und die polnische Gesellschaft mit Zeugnissen deutscher Kultur in Pommerellen im Bestreben der Polonisierung der Region umgingen, zeigt Karolina Zimna-Kawecka. Kulturelle Hinterlassenschaften der Deutschen wurden verändert oder zerstört: Man versuchte stattdessen durch neue Denkmäler, moderne Architektur oder Straßenumbenennungen, eine polnische Kultur zu schaffen. Der Denkmalschutz wurde zur nationalen, identitätsstiftenden Aufgabe. Jacek Friedrich verfolgt die nationale Auseinandersetzung in der Freien Stadt Danzig anhand ihrer visuellen Symbole wie Wappen, Siegel, des Geldwesens und der Postwertzeichen. Brigitte Braun zeichnet am Beispiel Oberschlesiens den Kampf um die Grenzrevision mittels der Propaganda im deutschen Kino nach, die sowohl eine außenpolitische als auch innenpolitische Zielrichtung hatte. Helmut Freiwald beleuchtet den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934, der eine Entspannung in der deutschen Polenpolitik und grundlegende Änderungen der nach Polen gerichteten Kulturpolitik zur Folge hatte.
Im Kapitel "Historische Gedächtnisorte" zeigt sich, dass die emotionale Einbindung des Individuums in die deutsche Volks- und Schicksalsgemeinschaft als propagandistisches Mittel gerade in den Bereichen Film, Theater und Literatur sowie Kriegssymbolik eine unübersehbare Rolle spielte. Das Erzeugen von Gefühlen nationaler Bedrängnis, um zum aktiven Handeln aufzurufen und den Krieg mit anderen Mitteln fortzuführen, weist Jürgen Joachimsthaler in seinem Beitrag über die "Grenzkampfliteratur" nach. Sie stand in der Tradition der Ostmarkenliteratur des Kaiserreiches und diente der Identitätsstiftung. Regina Hartmann bestätigt diesen Befund in ihrem Beitrag über Masuren. Ebenfalls mit Masuren als Erinnerungsort des Ersten Weltkriegs aus literaturhistorischer Perspektive bis in die Gegenwart beschäftigt sich Mirosław Ossowski. Katharina Wessely verdeutlicht die Bedeutung des deutschsprachigen Theaters in Böhmen und Mähren während der Zwischenkriegszeit als Gedächtnisort, als aktives Mittel zur Verarbeitung der Kriegsfolgen und als gleichzeitigen Gestaltungsplatz des kulturellen Gedächtnisses.
Auch Ryszard Kaczmarek zeigt in seinem Beitrag auf, wie sehr sich Kriegssymbolik und Erinnerungsorte in der Kriegerdenkmalgestaltung zu einem nationalpolitischen Imperativ entwickelten, der in Oberschlesien aus gleichzeitigen, teils gegenläufigen Erinnerungsverläufen auf deutscher und polnischer Seite resultierte. Mit den unterschiedlichen Kriegserinnerungen, -wahrnehmungen und Repressionserlebnissen der verschiedenen deutschen Minderheiten des Russischen Reiches, den Wolgadeutschen, Wolhyniendeutschen und Deutschbalten, beschäftigt sich Olga Kurilo. Sie waren bereits vor Kriegsbeginn von antideutschen Repressalien betroffen und erlebten den Krieg in höchst unterschiedlicher Intensität. Wie der Erste Weltkrieg deutschbaltische Frauen aufgrund ihrer Revolutions- und Kriegserinnerungen in eine politisierte Emanzipationsbewegung führte, stellt Anja Wilhelmi in ihrem Beitrag dar. Mit dem Identitäts- bzw. Nationalismuswandel unter den Deutschen im vormals russischen Herrschaftsgebiet Mittelpolens, die sich zu Kriegsbeginn noch als loyale Untertanen des Zaren betrachteten, beschäftigt sich Sewerin Gawlitta. Wojciech Kunicki setzt sich mit der (groß)schlesisch-regionalen und nationalsozialistisch beeinflussten Propaganda des Schriftstellers und Journalisten Wilhelm Szewczyks auseinander. Im Beitrag von Primus-Heinz Kucher geht es um das tragische Verhältnis zwischen der jüdischen und deutschen Kultur am Beispiel zweier bekannter Schriftsteller und deren nahezu autobiographischen Werken.
Im Abschnitt "Loyalität, Segregation, Autonomie" sind Beiträge über das teils zwiespältige Verhalten der deutschbaltischen Oberschichten zu ihren Gaststaaten (Michael Garleff), über das Konfliktverhältnis zwischen Deutschnationalen und den Renegaten in Polen (Beata Lakeberg), ferner zur deutsch-polnischen Auseinandersetzung um das Minderheiten-Schulwesen im Spannungsfeld von Assimilation und Loyalität in Polen (Ingo Eser) vertreten. Beispielhaft blickt Maria Gierlak auf die Wiedergabe der polnischen Kultur in der deutschen populärwissenschaftlichen Minderheitenpresse. Mit dem Wandel des deutschen Theaterlebens in Thorn, das durch die Bewahrung nationalkultureller Autonomie geprägt war, jedoch auch wechselseitigen Kulturtransfer ermöglichte, beschäftigt sich Marek Podlasiak. Dass unauffälliges Verhalten deutscher Soldaten im polnischen Heer von polnischer Seite nicht gleichzeitig als Loyalität zu Polen bewertet wurde, zeigt Pascal Trees in seinem Beitrag. Den politischen Aktivitäten der deutschen Minderheiten im späteren Jugoslawien und ihrem Verhältnis zum Gaststaat geht Zoran Janjetović auf den Grund, während sich Stefan Sienerth den zunehmend problematischen Loyalitätsoptionen siebenbürgisch-sächsischer Autoren gegenüber dem rumänischen Staat widmet.
Das fünfte Kapitel behandelt Aspekte im Themenfeld "Wissenschaft und Wissenschaftspolitik", insbesondere die innenpolitische Einflussnahme auf die breite Bevölkerung. Die Etablierung der Sudentendeutschen als spezifische Gruppe in der sogenannten Grenzlandvolkskunde in der Tschechoslowakei diente in Wechselwirkung mit der tschechoslowakischen Forschung zur gegenseitigen ethnischen Abgrenzung (Petr Lovoziuk). Auch eine "Kartographie der Ungarndeutschen im Nationalsozialismus" wurde zum medialen Mittel ethnischer Auseinandersetzungen (Robert Kemenyfi). Alena Janatková beschreibt den Ablauf und die Hintergründe der Berufung Karl Maria Swobodas an die Prager Deutsche Universität. Inhalt der über das Deutsche Reich hinaus vernetzten nationalen Agitation deutscher Studentenschaften in östlichen Metropolen wie Königsberg, Danzig, Breslau, Prag, Brünn und Czernowitz nach dem Krieg, war die Grenzrevision. In diesem Beitrag von Harald Lönneker irritieren allerdings einige vorweg als grundlegend vorgebrachte, jedoch nicht überzeugende Behauptungen über den politischen Habitus von Studenten. Mit jugendbewegten Exkursionen zu "deutschen Sprachinseln", die das Gefühl des Erhalts nationaler Kultur vermitteln sollten, beschäftigt sich Konrad Köstlin.
Im abschließenden Kapitel bearbeiten die Autoren den Themenkomplex "Tradition und Moderne". Das Bemühen zur Bewältigung der Kriegserfahrung mittels der Literatur beschreibt Matthias Schöning am Beispiel des Ostfront-Diskurses. Gertrude Cepl-Kaufmann stellt Schriftsteller aus Schlesien vor, die weniger eine Provinzmoderne gestalteten und mehr von Metropolen wie Berlin beeinflusst wurden, während Karsten Rinas sich mit dem Nationalitätenkonflikt in der sudetendeutschen bzw. tschechischen Grenzlandliteratur beschäftigt. Tomasz Majeweski zeigt in seiner Untersuchung über den Ersten Weltkrieg und seine Folgen als Bühnenmotiv in Breslau zur Zeit des Nationalsozialismus, dass das ideologisch vorgegebene Grenzlandthema vor allem gegen die Versailler Beschlüsse zielte. Marion Brandt belegt, dass die "Danziger Rundschau" für eine nationale Aussöhnung warb, damit jedoch in den 1920er Jahren weitgehend ohne Resonanz blieb. Auch die Bildkunst, so weist Johanna Brade in ihrem Beitrag nach, stellte sich in den Dienst der nationalen Sache und suchte nach dem Krieg nach einer adäquaten Bildsprache, meist mittels des Expressionismus, um das erlebte Kriegsgrauen zu verarbeiten. Der Expressionismus zieht sich durch alle Beiträge in dieser Sektion und zeigt auch im Falle des Parlamentsgebäudes in Tallin, dem historischen Reval, das Bemühen, sich dem historischen Erbe zwischen deutscher und russischer Vergangenheit zu stellen, das Mart Kalm mit architektonischen Beschreibungen belegt.
Naturgemäß vermitteln die zahlreichen Beiträge einen überaus heterogenen Eindruck. In diesem Sinne sprechen die Herausgeber von einem "Mosaik". Gerade aber die interdisziplinäre Grundstruktur zeigt, wie sehr insbesondere der "Grenzkampf" der deutschen Minderheiten auf nahezu alle Lebensbereiche eingewirkt hat. Diese Publikation bietet überaus interessante Einblicke in die Situation der deutschen Minderheiten in den Staaten Osteuropas der Zwischenkriegszeit. Es lässt vielfache Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten in der Gestaltung des "Aufbruchs" sowie bei der Bewältigung der "Krisen" erkennen. Über die Zuordnung einzelner Beiträge zu den Oberkapiteln ließe sich im ein oder anderen Fall streiten. Jedoch ist es nun Aufgabe der Forschung, vorhandene Lücken zu schließen. Auf sie macht dieser Band in vielfältiger Weise aufmerksam.
Marlene Klatt