Daniel Jütte: Das Zeitalter des Geheimnisses. Juden, Christen und die Ökonomie des Geheimnisses (1400-1800), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 420 S., ISBN 978-3-525-30027-5, EUR 54,95
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Leider ist die Jüdische Geschichte - zumindest in Deutschland - nach wie vor zu wenig in der allgemeinen Geschichte verankert, wie auch insgesamt zu wenig Austausch zwischen Jüdischer Geschichte, Kultur-, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte besteht. Daniel Jütte ist jetzt eine Studie gelungen, die Beachtung verdient, weil sie die genannten Disziplinen in vorbildlicher Weise verbindet und dabei vor allem zeigt, wie neuere Ansätze der Wissenschaftsgeschichte und der Kulturwissenschaften für die Jüdische Geschichte fruchtbar gemacht werden können, während umgekehrt die Jüdische Geschichte zu neuen Perspektiven in der Wissenschaftsgeschichte und den Kulturwissenschaften beitragen kann.
Konkret untersucht Jütte in Anlehnung an den Begriff der "Wissensökonomie" (knowledge economy) die frühneuzeitliche "Ökonomie des Geheimen" als "die Gesamtheit jener Aktivitäten, die sich als Handeln, Anbieten, Vermitteln, Liefern, Tausch und Verkauf von Geheimnissen beschreiben lassen" (10). Die Geheimnisse, die Jütte interessieren, sind all diejenigen, die prinzipiell wissbar sind und einem "intentional concealment" in Anlehnung an die Terminologie von Sissela Bok unterliegen. Konkret heißt das, dass Geheimnisse naturwissenschaftlicher, alchemischer, magischer, militärischer oder politischer Natur in den Blick genommen werden, theologische Geheimnisse (Mysterien) dagegen ausgeschlossen bleiben (13f.).
Jütte zufolge generieren Geheimnisse in der Frühen Neuzeit einen dynamischen Markt (24), der auch die sozialen Strukturen beeinflusst und insbesondere in der Begegnung zwischen Juden und Christen eine erhebliche Rolle spielt. Dies bedeutet einerseits, dass Juden - gegen das nach Jütte bis heute bestehende Bild aus der Wissenschaft des Judentums - nicht nur rationale Strömungen im frühneuzeitlichen Wissensaustausch unterstützten, sondern auch einen wesentlichen Anteil an parallelen, nicht-rationalen Wissensräumen hatten. Andererseits erlangten Juden durch ihre Beteiligung soziale Aufstiegschancen, die ihnen in den offiziellen Institutionen des Wissens häufig verschlossen blieben.
Jütte begründet seine in Erläuterungen in sechs Kapiteln. Nach seiner Einleitung im ersten Kapitel führt er im zweiten in "Facetten der Ökonomie des Geheimen" ein und stellt für die verschiedensten Wissensbereiche die Arkankompetenz von Juden heraus. Diese Arkankompetenz, so Jütte, habe sich eben nicht auf christlich antijüdische Diskurse beschränkt, sondern sei durchaus im Leben und Handeln der frühneuzeitlichen Juden fundiert gewesen. Im dritten Kapitel widmet sich Jütte der Verbreitung der Magie im Judentum und zeigt Handlungsspielräume auf, die Juden durch gemeinsame magische Praktiken mit Christen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft entstanden seien. Diese Handlungsspielräume identifiziert Jütte als Zwischenräume im Sinne Homi Bhabhas. Um sie für die gesamte Ökonomie des Geheimen nachzuweisen, geht Jütte im vierten Kapitel den "ökonomisch-merkantilen Dimensionen" der Ökonomie des Geheimen nach (141). Hier fragt er nach Affinitäten der Alchemie, aber auch anderer Wissensbereiche des Arkanen, zur ökonomischen Agenda des Frühmerkantilismus und räumt in diesem Falle mit dem Vorurteil auf, auch die jüdische Wirtschaftselite sei weitgehend "rational" gewesen (143). Stattdessen betont Jütte, dass Juden (und zum Teil selbst noch Konvertiten) ihre Arkankompetenz gepflegt und hochgehalten hätten, weil sie ihnen eben nicht nur in der antijüdischen Polemik zum Vorwurf gemacht worden sei, sondern andererseits auch geholfen habe, in der Ökonomie des Geheimen ihren Marktwert zu erhöhen.
Schließlich widmet sich Jütte im fünften Kapitel einer Fallstudie und stellt mit Abramo Colorni einen jüdischen "professore de' secreti" vor, der im späten 16. Jahrhundert als Militäringenieur, Mathematiker, Magier, Alchemist und Chemiker an den Höfen von Ferrara, Prag, Württemberg und Mantua wirkte und durch seine Nähe zu Regenten und Herrschern genau den sozialen Aufstieg, durch seinen Fall in Württemberg aber auch das Prekariat verkörperte, das einem frühneuzeitlichen Juden in der Ökonomie des Geheimen entstehen konnte. Anhand der Biographie von Colorni, die Jütte zufolge eben nicht alleine aus dem jüdischen Kontext und nicht unter Zuhilfenahme üblicher Kategorien wie derjenigen von Integration und Ausgrenzung verstanden werden kann (171), wird einerseits das Miteinander von "exakten Wissenschaften" und "esoterischen Gebieten" in der frühneuzeitlichen (jüdischen) Wissensgeschichte deutlich. Andererseits erschließt sich am konkreten Beispiel rückwirkend das Konstrukt der "Ökonomie des Geheimen" und der Sinn des zunächst sehr lang erscheinenden zweiten Kapitels neu.
Jüttes Arbeit schließt mit einer Anregung für die (jüdische) Wissenschaftsgeschichte, nicht mehr - wie bisher - den Beitrag von Juden zur "Wissenschaftlichen Revolution" zu untersuchen, sondern vielmehr insgesamt die Gleichzeitigkeit von Neuer Wissenschaft und arkanen Traditionen in den Blick zu nehmen und die Juden als tragende Kräfte wissenschaftlicher Veränderungen abseits der Institutionen, in denen die Vorstellung eines "offenen Wissens" propagiert wurde, wahrzunehmen (324). Zugleich sollte die Jüdische Geschichte eingesetzt werden, um die wichtige und durchaus positive gesellschaftliche Funktion von Geheimnissen in der Frühen Neuzeit zu bestätigen, die - ebenfalls gegen traditionelle Narrative - nicht mit dem 18., sondern erst im 19. Jahrhundert in ihr Gegenteil umschlug, und sie möglicherweise für die Gegenwart neu zu überdenken.
Das Zeitalter des Geheimnisses ist ein beeindruckendes Buch, das mit Neuigkeiten und Anregungen für die unterschiedlichsten Interessenten aufwarten kann. Zudem ist es gut und klar geschrieben, sodass selbst regelmäßige Wiederholungen nicht stören. Ob alle Thesen, die Jütte aufstellt, ohne Einschränkung übernommen werden können, müssen weitere Forschungen klären. Insbesondere Jüttes Annahme eines vollkommen gleichberechtigten Nebeneinanders von Juden in Christen in der Ökonomie des Geheimen überrascht, zumal selbst der Austausch, der in Gelehrtenkontexten stattfand, in der Regel alles andere als gleichberechtigt war. Hier hätten einige zusätzliche Nachweise nicht geschadet. Auch hinsichtlich der jüdischen Akzeptanz von Männern wie Colorni ist fraglich, ob dessen Heirat mit der Tochter des bedeutenden Gelehrten Yechiel Nissim da Pisa und die allgemeine Faszination an Magie in jüdischen Kreisen als Argumente ausreichen können. Letztlich sind diese Kritikpunkte aber unwesentlich.
Wichtig ist, dass Jütte mit seiner Arbeit neue Thesen vorbringt, die geeignet sind, spannende Diskussionen anzuregen. Und wichtig ist, dass er mit seiner Herangehensweise insgesamt ein forschungsstrategisches Zeichen setzt, das hoffentlich in der Zukunft Nachfolger findet.
Sina Rauschenbach