Davide Rodogno: Against Massacre. Humanitarian Interventions in the Ottoman Empire, 1815-1914 (= Human Rights and Crimes against Humanity), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2012, XI + 391 S., 5 Kt., ISBN 978-0-691-15133-5, GBP 27,95
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Fragen zur humanitären Intervention - also das militärische Eingreifen zum Schutz humanitärer Normen und universeller Menschenrechte - sind nicht zuletzt vor dem Hintergrund des NATO-Engagements im libyschen Bürgerkrieg hochaktuell und provozieren zahlreiche kontroverse Debatten. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung hat sich vor allem die Völkerrechtslehre und Politikwissenschaft schon seit längerer Zeit mit der Problematik befasst, während die Geschichtswissenschaft erst seit kurzem das große Potenzial des Themas für sich entdeckt hat. Der Historiker Davide Rodogno vom Graduate Institute of International and Development Studies in Genf liefert mit seinem Buch Against Massacre eine erste genuin historiographische Arbeit, die sich mit den verschiedenen Fällen von humanitärer Intervention der europäischen Großmächte zum Schutz christlicher Minderheiten im Osmanischen Reich beschäftigt. Sein erklärtes Ziel ist es dabei, zu zeigen "[...] when, where, who, how, and for what reasons a humanitarian intervention was undertaken from 1815 to 1914." (1). Im Unterschied zum Buch Freedom's Battle [1] des Politikwissenschaftlers Gary Bass, das sich ebenfalls auf die europäischen Interventionen im Osmanischen Reich konzentriert, bezieht Rodogno explizit auch die Fälle von Nichtinterventionen in seine Analyse mit ein. Sein Fokus richtet sich nach eigenen Worten auf eine politische Geschichte der humanitären Intervention, wobei er ausdrücklich auf das große zukünftige Forschungspotenzial des Themas verweist.
Die zentrale Grundannahme des Autors und die damit verbundene Begründung für die geographische Fokussierung seines Buches besteht darin, dass die Ursprünge der humanitären Intervention im speziellen Verhältnis zwischen den europäischen Großmächten und dem Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert zu finden seien. Das kollektive Eingreifen der Hauptakteure Großbritannien, Frankreich und Russland müsse in den internationalen Kontext der schwelenden "Eastern Question" gesetzt werden, und in diesem Zusammenhang verweist der Autor auf den selektiven, imperialen sowie strategischen Charakter der Einmischung in die innere Angelegenheiten des Sultans am Bosporus (8-9). Massaker an christlichen Minderheiten, welche die Regierungen und verschiedenen humanitären Aktivisten in Europas Machtzentren auf eine vermeintliche Dichotomie zwischen "europäischer Zivilisation" einerseits und "osmanischer Barbarei" andererseits zurückführten, lieferten dabei den Legitimationsgrund für ein militärisches Vorgehen.
Vor der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den einzelnen Fallbeispielen führt der Autor den Leser prägnant in die Grundkonstellation der internationalen Politik des 19. Jahrhunderts in Verbindung mit der "Eastern Question" ein. Anschaulich wird die völkerrechtliche Sonderstellung des Osmanischen Reichs, dem auf Grund vorgeblicher Zivilisationsdefizite eine Aufnahme in die "Family of Nations" verweigert wurde, erläutert. Basierend auf dieser Exklusion argumentierten prominente zeitgenössische Völkerrechtler für ein Interventionsrecht der Großmächte im Fall von Übergriffen auf christliche Glaubensbrüder und sahen darin eine spezielle Form der "civilizing mission" (62). Zu Recht betont Rodogno an dieser Stelle die paradoxe Situation, dass die europäischen Regierungen als Legitimationsgrund für ihr Handeln die Verletzung humanitärer Prinzipien anführten, die sie selber im ihrem eigenen Machtbereich wie den Kolonien mit großer Regelmäßigkeit missachteten. Der Autor begeht dabei nicht den Fehler, den heutigen Begriff von Menschenrechtsverletzungen zu gebrauchen, sondern benützt durchgängig die zeitgenössischen Termini "massacre", "atrocity" und "extermination".
Den Hauptteil des Buches bildet die - an manchen Stellen etwas sehr detaillierte -ereignisgeschichtliche Darstellung der verschiedenen Fallbeispiele. Angefangen vom Eingreifen in den griechischen Unabhängigkeitskrieg 1821-1833 über die Intervention im Libanon und in Syrien 1860-1861, der Nichtintervention während der großen Balkankrise 1875-1878 und in der Armenienfrage 1886-1909 bis zur internationalen Besetzung Kretas 1896-1900 und dem diplomatischen Eingreifen in die Mazedonienfrage 1903-1908 wird die Politik der europäischen Großmächte und die daraus resultierenden Ergebnisse analysiert. Rodogno gelingt es dabei überzeugend zu zeigen, dass die humanitäre Intervention im 19. Jahrhundert von der Bereitschaft der Großmächte zum kollektiven Handeln abhängig war und nur unter der Voraussetzung stattfand, das internationale System dadurch nicht zu destabilisieren. Aus diesem Grund habe mit der wachsenden Mächterivalität zum Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bereitschaft zum kollektiven Vorgehen deutlich abgenommen (171-172). Der Mobilisierung von öffentlicher Meinung durch Aktivisten und Interessensgruppen räumt er eine wichtige Bedeutung ein, wenn auch keine entscheidende, die das Handeln der Regierungen in London und Paris maßgeblich bestimmt habe. Im abschließenden Vergleich zwischen der Praxis im 19. und 20. Jahrhundert kommt Rodogno zu dem Ergebnis: "In conclusion, I believe that the current paradigm of humanitarian intervention is not entirely different from that of the nineteenth century. [...] More important, 'responsible' interventions to protect civilian populations victims of gross violations of human rights are still subordinated to collective security priorities of the intervening states; they are still the result of mixed motives." (274).
Kritisch anzumerken gilt es, dass der Autor humanitäre Intervention im 19. Jahrhundert exklusiv im Kontext der Beziehungen zwischen den europäischen Großmächten und dem Osmanischen Reich verortet. Zweifellos waren diese Interventionen wichtige Präzedenzfälle für die Entwicklung der Völkerrechtspraxis der Humanitätsintervention, aber die humanitäre Intervention im 19. Jahrhundert ereignete sich eben nicht ausschließlich "in a clearly defined geographical area of the globe - the Ottoman Empire" (264). Gerade neue Forschungsprojekte zeigen, dass es auch in anderen Weltregionen und unter anderen politischen Konstellationen zu vergleichbaren Interventionen kam, die daher viel stärker im Entwicklungsprozess berücksichtigt werden müssen. Trotz dieses Einwands ist Rodogno ein sehr wichtiger Beitrag zur historischen Erforschung des Phänomens der humanitären Intervention gelungen. Sein Buch wird sicherlich als Referenzpunkt für weitere Arbeiten in diesem vielversprechenden neuen historischen Forschungsfeld dienen - oder wie es der Autor in der Einleitung selbst formuliert: "[...] many other histories of humanitarian interventions await to be written" (2).
Anmerkung:
[1] Gary Bass: Freedom's Battle. The Origins of Humanitarian Intervention, New York 2008.
Fabian Klose