Christoph Dartmann / Thomas Scharff / Christoph Friedrich Weber (Hgg.): Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur (= Utrecht Studies in Medieval Literacy; 18), Turnhout: Brepols 2011, VIII + 489 S., ISBN 978-2-503-54137-2, EUR 90,00
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Christoph Dartmann / Günther Wassilowsky / Thomas Weller (Hgg.): Technik und Symbolik vormoderner Wahlverfahren, München: Oldenbourg 2010
Auswüchse und Dysfunktionalitäten des Schriftgebrauchs sind nicht erst in der schreibversessenen Moderne zu beobachten. In den mediävistischen Forschungen der letzten Jahre vielfach konstatiert und beschrieben, stellen sie nachhaltig die Meisterzählung vom Fortschritt und der Rationalisierung der oralen mittelalterlichen Kulturen durch das Medium Schrift in Frage. Sie untergraben damit ein kulturhistorisches Paradigma, das auf die Bedeutung der Schriftkultur für die Entwicklung von Gesellschaften überhaupt erst aufmerksam gemacht hatte (und damit lange auch die Rechtfertigung solcher Forschungsinteressen garantierte). Ein Sammelband, herausgegeben zu Ehren von Hagen Keller anlässlich seines 70. Geburtstages, antwortet darauf programmatisch, indem er die "pragmatische" Dimension der Schriftkultur nicht verwirft, sondern ergänzt um den "performativen" Gebrauch von Schriftlichkeit. [1]
Als Autoren des Bandes, der auf fast fünfhundert Seiten 17 Aufsätze umfasst, wurden sowohl Weggefährten als auch Schüler von Hagen Keller gewonnen. Darin abgebildet findet sich mit Beiträgen amerikanischer, englischer, französischer, italienischer, österreichischer und schweizerischer Kollegen zugleich das internationale Netz, in dem Kellers Forschungen entstanden und rezipiert werden. Chronologisch ausgreifend vom 9. bis ins 16. Jahrhundert stehen geographisch - Kellers Forschungen entsprechend - Fallstudien zu Italien im Zentrum, aber auch zu England, Frankreich, der Eidgenossenschaft und dem deutschen Norden sind Beiträge vertreten. Die Schriftlichkeit, die die Autoren auf ihre pragmatischen und performativen Funktionen untersuchen, ist ebenfalls weit gefächert: Urkunden, Akten, Protokolle und Amtsbücher werden ebenso thematisiert wie Historiographie, Memorialüberlieferung oder 'Ego-Dokumente'; mehrere Beiträge nehmen außerdem die Wechselwirkung zwischen schriftlicher Überlieferung und Bildmedien in den Blick.
Weit mehr als dem Genre der Festschrift geschuldet, erscheint als 'Rückgrat' des Bandes der Rekurs auf Impulse, die Hagen Keller in diesem Forschungsfeld gesetzt hat. Thomas Scharffs Beitrag etwa knüpft an Kellers Überlegungen zum Wandel von der Epoche des 'heiligen Buches' zur Zeit der 'Buchhaltung' an. Am Beispiel Braunschweigs und der dort um 1400 fassbaren "Schriftlichkeitsoffensive" zeigt er, wie fruchtbar sich dieses vor allem an italienischen Fallstudien erprobte Forschungsdesign auch auf das Gebiet nördlich der Alpen beziehen lässt. François Bougards Analyse herrscherlicher Urkunden für das 'regnum Italicum' um 1000 geht aus von Kellers Deutungen von Herrscherurkunden als "Botschafter" des Privilegierungsaktes, nach denen sich zentrale Teile des Urkundenformulars als zu Formeln geronnene Handlungssequenzen dechiffrieren lassen. Ganz in den Mittelpunkt gerückt ist die Prägekraft von Kellers Denkansätzen im Beitrag von Gerd Althoff über die Ottonenzeit. Er zeichnet darin die durch die Erforschung der Memorialüberlieferung seit den 1970er Jahren angestoßene Neubewertung dieser Zeit nach, durch die als (Erfolgs-)Muster der Herrschaft anstelle eines umfassenden Machtanspruches des Königs über seine Großen immer deutlicher der königliche Wille zur Konsens- und Integrationspolitik mit den Eliten hervortrat.
Doch nicht nur die Würdigung der Arbeiten Hagen Kellers verklammert die im Band versammelten Überlegungen. Im Folgenden seien drei thematische Schwerpunkte hervorgehoben, die gleich mehrere der Beiträge einen: Erstens sei die neue Aufmerksamkeit der Forschung für die performative Dimension von Quellen genannt, die - wie etwa schon bei Bougard - auf den ersten Blick lediglich spröde Speicherfunktionen vermuten lassen. Nur selten lässt sich die symbolische Inszenierung solcher Quellen so eindrucksvoll durch ergänzende Zeugnisse bestätigen, wie Giuliano Milani dies in seinem Beitrag über Wandmalereien in Brescias Kommunalpalast aus dem späten 13. Jahrhundert vermag. Wie er rekonstruiert, handelt es sich bei der gemalten 'Prozession' aneinander geketteter Ritter auf Pferden um konkrete, durch Wappen und Inschriften identifizierbare Mitglieder der städtischen "militia", die die Stadt wegen ihrer Vergehen gegen das Gemeinwohl verstoßen hatte. Die Banner mit ihren Namen zeigt in ihrer Gestaltung merkwürdige Übereinstimmungen mit der Anlage und den Eigenheiten der kommunalen Register: Die Künstler müssen diese für die Prozesse angelegten Listen demnach bei der Anfertigung ihrer Werke in der Hand gehalten haben.
Als zweiter Faden, der in vier Beiträgen des Bandes wiederkehrt, ist das durch die Jahrhunderte zu beobachtende Phänomen der 'diskreten Aktualisierung' rechtsrelevanter Schriftstücke zu nennen, das aus moderner Perspektive schlicht als Urkundenfälschung zu qualifizieren wäre. Bei Janet Nelson, die Fälschungen als "part of the expert canonist's intellectual tool-kit" (31) bezeichnet, ist diese irritierende Beobachtung in der Figur des Erzbischofs Hinkmar von Reims auf die Spitze getrieben, der selbst als Fälscher zugunsten seines Bistums tätig wurde und zugleich empört Konkurrenten der Fälschung bezichtigte. In Walter Pohls Beitrag über Montecassino erscheint dieses Phänomen freilich anders akzentuiert als Teil der "Anstrengungen des Erinnerns", wenn das traditionsreiche Kloster nach Plünderungen 883 und einer Brandkatastrophe 896 sowohl die liturgisch-geistlichen Traditionen des Klosters als auch seine weltlichen Güter abzusichern suchte. Pohl beginnt mit der Anekdote in der 200 Jahre später verfassten Chronik des Leo Marsicanus, dass der greise Presbyter Maio die Privilegien aus dem Gedächtnis aufzusagen vermocht habe (40).
Eine ähnliche Stoßrichtung wird im Aufsatz von Roger Sablonier (†) deutlich: Unter dem Titel "Urkunden im Reagenzglas" präsentiert er Forschungen zu einem Bestand prominenter Urkunden aus der Innerschweiz um 1300, die bis heute als 'Gründungsdokumente' der Eidgenossenschaft nationale Aufmerksamkeit genießen. Die virulenten Zweifel an ihrer Echtheit ließen sich freilich auch mit einer medienwirksam verfolgten Altersbestimmung mittels Radiokarbon nicht beenden. Die naturwissenschaftlich ermittelten Zeitfenster wertet Sablonier als Spuren für die philologische Suche nach dem Wann und Warum von Nachherstellungen und Aktualisierungen. Für ihn steht eine retrospektive Bereinigung der Tradition fest, die die Stücke zu einer gemeinsamen 'waldstättischen' Überlieferung formen sollte. Weshalb die Urkunden trotzdem nicht als Fälschungen galten, erklärt Sablonier mit der Überlegung, dass für die Glaubwürdigkeit der Stücke nicht ihr Alter entscheidend war. Es kam vielmehr darauf an, dass sich das Schriftstück als Objekt beim richtigen Besitzer am richtigen Ort befand (387).
Denselben Konflikt zwischen der Authentizität einer Urkunde und ihrer Autorität deckt auch der Beitrag von Brigitte Miriam Bedos-Rezak zum kanonistischen Diskurs über die Echtheit von Siegeln auf. Wie sie nachweist, wurde zuerst unter Papst Alexander III. im späten 12. Jahrhundert ein systematischer Kriterienkatalog zur Prüfung von Siegeln entwickelt, auf den im 13. Jahrhundert eine intensive Diskussion aufbaute. Trotzdem scheiterte man immer wieder daran, dass man Authentizität nicht nur als 'Unverfälschtheit' eines konkreten Urkundenträgers definierte, sondern parallel mit demselben Begriff auch die 'Glaubwürdigkeit' originaler Urkunden diskutierte, d. h. die Fragen, ob die darin getroffenen Inhalte als rechtmäßig gelten durften und ob ihr Aussteller die für die Ausstellung nötige Autorität und Legitimität beanspruchen konnte.
Die dritte Leitfrage ergibt sich aus den schon im Titel des Bandes benannten Interdependenzen von pragmatischer Schriftlichkeit und Performanz. Bereits die Einleitung von Christoph Dartmann streicht als typisch für die vormoderne Schriftkultur heraus, dass gerade die vormoderne Rechtskultur schon seit dem Hochmittelalter nicht mehr ohne die Bezugnahme auf Urkunden, Gesetze, Akten denkbar ist. Dies habe aber nicht dazu geführt, dass die mündliche Kommunikation an Bedeutung verloren hätte. Vielmehr wurde sowohl im Prozess der Entstehung als auch der Wiederverwendung von Schriftstücken weiterhin 'face to face' verhandelt und geprüft, wie ernst es dem Gegenüber mit seinen schriftlich vorgebrachten Ansprüchen oder Forderungen war.
Für diese zentralen Thesen findet sich in den Beiträgen vielfältiges Anschauungsmaterial: Christoph Friedrich Weber präsentiert in seinem Beitrag über das kommunale Italien der Stauferzeit eine Vielzahl von Beispielen, in denen sich Gesandte vergeblich darum bemühten, dem Podestà einer italienischen Kommune ein Schriftstück zu überbringen bzw. es öffentlich zu verlesen. Die Verweigerungshaltung der Podestà, die die missliebigen Botschaften zerrissen, zertrampelten und aufaßen, ihre Boten nicht vorließen, mit List wieder aussperrten oder verprügelten, erscheint nach Webers Ergebnissen als gängiges Mittel in Krisensituationen. Die zeitgenössische Aufmerksamkeit für solche einseitig abgebrochenen Kommunikationsvorgänge unterstreicht im Umkehrschluss die Bedeutung von performativen Akten für die Rechtsverbindlichkeit von Schriftstücken.
Im Aufsatz von Michael Jucker über die eidgenössischen Tagsatzungen des späten Mittelalters ist sogar ein gewisses Misstrauen gegenüber der schriftlichen Fixierung von Verhandlungsergebnissen überhaupt zu erkennen. Juckers Untersuchung der Einträge über die Treffen eidgenössischer Gesandter in den Ratsprotokollen Luzerns und Zürichs beginnt mit dem enttäuschenden Befund, dass die Stadtschreiber häufig nur Stichpunkte notierten, die weitere Arbeit für sie persönlich nach sich zogen. Entscheide, die auf den Treffen gefällt, Herrschaftswissen, das ausgetauscht wurde, wurden dagegen - im Gegensatz zum kaiserlichen Gesandtschaftswesen - gerade in heiklen Angelegenheiten nur mündlich durch Gesandte übermittelt. Dies änderte sich auch nicht nach einem Wandel der Protokollierungstechnik ab 1445, als in Zeiten wachsender Spannungen das Mehr an Schriftlichkeit nun vor allem die Aushandlung der Verhandlungsmodi und Terminverschiebungen festhielt. Dieser Anstieg, so konstatiert Jucker, sei demnach keinesfalls als gesteigerte Effektivität der Versammlungen, sondern eher noch als ihr Gegenteil zu interpretieren.
Es ist damit nicht zuletzt die Faszination für die Andersartigkeit der vormodernen Welt, die auch in weiteren Beiträgen des Bandes - etwa in Franz Arlinghaus' Überlegungen zur 'Individualität' des Petrus Abaelard - immer wieder aufscheint. Die im Band aufgefächerte Vielfalt der Ansätze, sich ihrem zwischen den Polen 'vertraut' und 'fremd' oszillierenden Umgang mit Schrift zu nähern, mag im Leser an der einen oder anderen Stelle den Wunsch provozieren, über gemeinsame Begriffe noch stärker zu reflektieren. Generell jedoch ist diese Vielfalt kein Nachteil: In ihr spiegelt sich die Pluralität der aktuellen Schriftlichkeitsforschung, die gerade deswegen auch nach dem Verlust des Fortschrittsparadigmas um ihre Legitimität nicht zu fürchten braucht.
Anmerkung:
[1] Dem Band liegen - mit wenigen Abweichungen - die Vorträge einer gleichnamigen Festtagung an der Universität Münster (2.-4.5.2007) zugrunde, vgl. den Tagungsbericht von Jenny Oesterle, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1591 (28. Februar 2012).
Carla Meyer