Paul Addison: No Turning Back. The Peacetime Revolutions of Post-War Britain, Oxford: Oxford University Press 2010, XIV + 449 S., ISBN 978-0-19-219267-7, GBP 18,99
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Tony Insall / Patrick Salmon (eds.): The Nordic Countries: From War to Cold War, 1944-1951, London / New York: Routledge 2011
Brian Harrison: Finding a Role? The United Kingdom, 1970-1990, Oxford: Oxford University Press 2010
Adrian Bingham: Family Newspapers? Sex, Private Life, and the British Popular Press 1918-1978, Oxford: Oxford University Press 2009
Entsprechend den Konjunkturen zeithistorischer Forschungen erscheinen in Großbritannien in jüngster Zeit vermehrt Bücher zur Geschichte des Vereinigten Königreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu erwähnen wären etwa die zweibändige Darstellung des Oxforder Historikers Brian Harrison, die inhaltlich breiten, dafür zeitlich kleinteiligen Bände Dominique Sandbrooks oder das an ein breites Publikum gerichtete Werk des Journalisten Andrew Marr. [1]
Das Buch des Edinburgher Emeritus Paul Addison konzentriert sich auf einige Aspekte der Politik- und Sozialgeschichte vom Amtsantritt Clement Attlees 1945 bis zum Wahlsieg von New Labour 1997. Der Autor, ein ausgewiesener Experte für die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die frühen Nachkriegsjahre [2], unterteilt diesen Zeitraum in drei Abschnitte: 1945-1957, 1957-1974, 1974-1997. In je vier thematischen Unterkapiteln fragt er nach der Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft, nach der Entwicklung des Lebensstandards und der sozialen Schichtung, nach Geschlecht, Sexualmoral und Familie sowie nach dem nationalen Selbstverständnis.
Paul Addison vertritt die These, der rasante Anstieg des Wohlstands seit Kriegsende und die Entfaltung der Massenkonsumgesellschaft hätten für die Entwicklung Großbritanniens im 20. Jahrhundert umfassendere Veränderungen zur Folge gehabt als die beiden Weltkriege oder die Zwischenkriegszeit: "With the advantage of a longer perspective we can see that the comparative peace and growing prosperity of the second half of the century were more powerful solvents of tradition than the Battle of the Somme or the Blitz." (2) Zwar hätten der Krieg gegen Nazi-Deutschland und sein Ende die Vollbeschäftigung und die Durchsetzung des Wohlfahrtsstaats gebracht, die Kontinuitätslinien aus den 1920er und 1930er Jahren hätten zunächst jedoch überwogen. Die gesellschaftlichen Strukturen sowie kulturelle Prägungen und Moralvorstellungen seien zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und den späten 1950er Jahren relativ stabil geblieben.
Erst mit den 1960er Jahren setzten die Peacetime Revolutions ein. Darunter versteht Paul Addison vor allem zwei große Veränderungsschübe, die er als die Durchsetzung unterschiedlicher Formen des Liberalismus interpretiert: den Sozialliberalismus, der bis in die 1970er Jahre dominierte und den Marktliberalismus der Thatcher-Ära.
Eine wichtige Rolle kommt in dieser Argumentation den historischen Konjunkturen unterschiedlicher Konzepte von Staatlichkeit zu. Spätestens Ende der 1950er Jahre hätten sozialliberale und sozialdemokratische Vorstellungen über die Parteigrenzen hinweg dominiert. Das Bekenntnis zu einer gemischten Wirtschaftsordnung, das Ziel der Vollbeschäftigung, die Kooperation von Staat, Unternehmen und Beschäftigten sowie der weitere Ausbau des Wohlfahrtsstaats seien die Kernpunkte dieses Konsensdenkens gewesen. Dem interventionistisch agierenden Nationalstaat unter der Führung neuer, wissenschaftlich ausgebildeter Eliten sei die Rolle des Motors der Modernisierung von Gesellschaft und Wirtschaft zugedacht worden. Durch Planung und Steuerung sollte er die Wucht der wirtschaftlichen Entwicklung auffangen, für stetiges Wachstum sorgen und verbesserte Lebensbedingungen schaffen.
Enttäuschte Erwartungen angesichts des Scheiterns dieser Politik, veränderte Rahmenbedingungen nach dem Auslaufen des Booms sowie die sinkende Reichweite nationaler Lösungsansätze angesichts der zunehmenden internationalen Verflechtung der Wirtschaft hätten dann zu einer allmählichen Aushöhlung des sozialliberalen Konsenses geführt. In beiden großen politischen Lagern hätten sich in der Folge die radikalen Kräfte durchgesetzt. Labour driftete nach links, während bei den Konservativen die Marktliberalen unter Margaret Thatcher den Ton angaben.
Thatchers Amtsantritt 1979 war demnach ein Symptom für einen erneuten Paradigmenwechsel, "so far-reaching as to amount, by British standards, to a revolution" (260). In der Folgezeit seien sozialdemokratische und sozialliberale Vorstellungen von der Rolle des Staates und von den Funktionszusammenhängen der Wirtschaft zurückgedrängt worden. Die Beschneidung der Gewerkschaftsmacht, die Privatisierung der Staatsbetriebe und die Deregulierung der Finanzmärkte waren die Ecksteine zur Errichtung einer neuen neoliberalen Ordnung.
Diese zweite, marktliberale Revolution blieb für den Autor jedoch ebenso unvollständig wie die sozialliberale Modernisierungspolitik. Er verweist hier zum einen auf den gescheiterten Rückbau des Sozialstaats, der nie mehrheitsfähig war und sich am Ende politisch nicht durchsetzen ließ. Zum anderen sei die neoviktorianische Erneuerung von Gesellschaft und Moral auf der Strecke geblieben. Der Boom hatte die finanziellen Grundlagen für eine gesellschaftliche Liberalisierung im Zeichen von Individualismus und Konsum geschaffen, die seit den 1960er immer mehr an Dynamik gewann, bis in den 1970er und 1980er Jahren aus einer "permissive minority" eine "permissive society" geworden sei (341). Diese Entwicklung habe sich letztlich als unumkehrbar erwiesen.
Das Buch bietet insgesamt wenig Überraschungen. Paul Addisons Lesart rückt jedoch manches in ein neues Licht. Zum einen gelingt ihm die Verknüpfung zweier scheinbar gegensätzlicher Veränderungsprozesse, indem er die Dominanz liberaler Ideen in der britischen Geschichte seit den späten 1950ern betont. Zum anderen erweisen sich jene Einblicke als lesenswert, in denen sich der Autor als Mitlebender - im Sinne von Hans Rothfels - zu erkennen gibt und seine persönliche Geschichte in die Gesamtschau einordnet. Ein Wermutstropfen ist allerdings die weitgehende Ausklammerung der kulturgeschichtlichen Entwicklung.
Unterm Strich handelt es sich um eine kompakte, gut geschriebene, unterhaltsame und aufgrund zahlreicher Tabellen, Grafiken und Karten auch materialreiche Einführung in die Sozial- und Politikgeschichte Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg. Die doppelte Gliederung - einmal chronologisch, einmal thematisch - wirkt zwar bisweilen redundant, erleichtert jedoch den Zugriff. Zwei Seiten weiterführender Literatur im Anhang sind jedoch etwas knapp. No turning back eignet sich hervorragend zum Einstieg in die britische Nachkriegsgeschichte und dürfte seinen Weg in Hörsäle und Seminare ebenso finden wie in die Bücherregale einer historisch interessierten Leserschaft.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Brian Harrison: Seeking a Role. The United Kingdom 1951-1970, Oxford 2009; Brian Harrison: Finding a Role? The United Kingdom 1970-1990, Oxford 2010; Dominique Sandbrook: Never Had it so Good. A History of Britain from Suez to the Beatles, London 2006; Dominique Sandbrook: White Heat. A History of Britain in the Swinging Sixties, London 2006; Dominique Sandbrook: State of emergency. The way we were: Britain 1970-1974, London 2010; Andrew Marr: A History of Modern Britain, London 2007; zu den Neuerscheinungen vgl. Dominik Geppert: Großbritannien seit 1979. Politik und Gesellschaft, in: Neue politische Literatur 54 (2009) H. 1, 61-86.
[2] Vom selben Autor stammen unter anderem: The Road to 1945. British politics and the Second World War, London 1975; Now the War is Over: A Social History of Britain, 1945-1951, London 1985.
Tobias Gerstung