Wolfgang Jacobmeyer: Das deutsche Schulgeschichtsbuch 1700-1945. Die erste Epoche seiner Gattungsgeschichte im Spiegel der Vorworte (= Geschichtskultur und historisches Lernen; Bd. 8), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2011, 3 Bde., 1544 S., ISBN 978-3-643-11418-1, EUR 99,90
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Schulgeschichtsbücher sind hybride Publikationen: Sie werden auf dem Markt frei verkauft - und durchlaufen ein staatliches Genehmigungsverfahren; sie gelten als Sachbücher - und sind ganz auf die Verwendung im Unterricht ausgerichtet; sie sind fertige Produkte - und werden im Zeichen von Bildungspolitik und Kulturföderalismus dauernd geändert. Im Buch selbst begegnen Darstellungstexte und Quellen; Materialien aller Art dienen der Illustration oder der Erarbeitung im Unterricht. Diese Besonderheit des Gegenstands prägt auch die Schulbuchforschung, die sich auf vielfältige Art diesem spezifischen Produkt nähert. Sie lässt sich in drei Richtungen einteilen: die historische Schulbuchforschung, die die Entwicklung dieses Mediums unter vielerlei Fragestellungen untersucht, die internationale Schulbuchforschung, die sich oft vergleichend den Geschichtsdarstellungen im europäischen und globalen Kontext widmet, und schließlich die didaktische Schulbuchforschung, die sich für die Verwendung im Unterricht interessiert. [1]
Das vorliegende Buch - oder besser: Werk - von Wolfgang Jacobmeyer ist der ersten Richtung zuzuordnen, der der Autor durch eine Reihe von Publikationen verpflichtet ist. So betrachtet er Schulbücher, da sich in ihnen die Selbstwahrnehmung einer Nation widerspiegelt, als "nationale Autobiographie". [2] Diesen Ansatz verfolgt der Autor, indem er in zwei umfangreichen Bänden die von ihm akribisch recherchierten, sorgfältig annotierten und mit hilfreichen editorischen Hinweisen versehenen (23-25) Vorworte von Schulgeschichtsbüchern zwischen 1700 und 1945 dokumentiert. Dabei bezieht er auch diejenigen Werke ein, die keinen entsprechenden Vorspruch enthalten, so dass die Bände zugleich ein äußerst nützliches Bücherverzeichnis, ein "Inventar des Schulgeschichtsbuchs" (12), darstellen. Diese Editionsleistung ist angesichts der unübersichtlichen bibliografischen Situation und angesichts der weiten Verbreitung dieses Mediums nicht hoch genug einzuschätzen. Zu Recht weist Jacobmeyer nämlich darauf hin, dass das Geschichtsbuch für die Schule "unstrittig das am weitesten verbreitet Medium moderner Gesellschaften zur Überlieferung von Geschichte" ist (10). Die Entscheidung die ursprünglich geplante Bibliografie zu einer Edition der Vorworte auszuweiten, begründet er damit, dass diese "das Geschichtsverständnis, den historischen Tradierungswillen und das Methodenbewußtsein (!) der Autoren am deutlichsten wiedergeben" (12). In ihnen spiegeln sich gleichsam das zeitgenössische Geschichtsbewusstsein und das professionelle Selbstverständnis der Verfasser wider. Wie seine Reflexion des Forschungsstands (vgl. 21f.) zeigt, betritt Jacobmeyer damit - abgesehen von einzelnen kleinen einschlägigen Publikationen - Neuland.
Der Edition selbst stellt er in einem eigenen Band einen "Abriss der Gattungsgeschichte zwischen 1700 und 1945" voran, der als Einführung zu lesen ist, aber - angesichts des Umfangs von mehr als 200 Seiten - auch als eigenständige Monografie. Die knapp 250 Jahre gliedert er in acht Perioden, die er mit Hilfe der Informationen, die die Edition zutage gefördert hat, näher charakterisiert. Angefangen von der Quantität der Produktion über die regionale Verteilung der Verlage und die Zusammensetzung der Autorenschaft reichen die Beobachtungen bis hin zum Profil der einzelnen Schulbüchern, die sich mitunter sinnfällig in der Titulatur widerspiegeln, und den damit implizierten unterrichtsmethodischen Präferenzen. Insofern bietet Jacobmeyer eine außerordentlich informative und höchst anregende Geschichte des Schulgeschichtsbuchs. Allerdings kann und will dieser "Abriss" diese Forschungslücke nicht schließen, da dafür zum einen eine Analyse der Schulbuchdarstellungen selbst - und nicht nur der Vorworte - nötig und da zum anderen die umfangreiche Literatur zur Schulbuchforschung aufzuarbeiten wäre. Aber er liefert für die noch zu schreibende "nationale Autobiographie", die in Schulbüchern begegnet, gleichsam einen verlässlichen "Lebenslauf". - Und das ist nicht wenig!
Gemäß seinem bibliografisch-editorischen Vorgehen argumentiert Jacobmeyer weitgehend "immanent", d. h. indem er die Vorworte systematisch auswertet und interpretiert. Eine Betrachtung des Feldes, in das das Schulgeschichtsbuch eingebettet ist, würde möglicherweise noch andere Perspektiven eröffnen - entsprechende "Ausblicke" gibt der Autor selbst (22f.) - oder den Blick mitunter anders ausrichten. So wäre etwa zu überlegen, ob die aus dem Material schlüssig und überzeugend begründete Periodeneinteilung sich verändert, wenn andere Aspekte wie bildungspolitische Veränderungen und Lehrplanrevisionen, an die die Schulbuchentwicklung immer eng gekoppelt ist, stärker betont werden. Auch besitzen bestimmte Formen der historiografischen Darstellung wie Epochengliederungen, sachliche Strukturierungen, narrative Muster sowie Sach- und Werturteile eine mitunter verblüffende Langlebigkeit, die die behaupteten Zäsuren überspielen. So reichen Traditionen der Schulbuchdarstellung des Kaiserreichs noch in die Weimarer Republik und sogar in die Zeit des Nationalsozialismus hinein. Auch erweist sich der Bruch des Jahres 1945 auf den zweiten Blick als weniger tief, da auch aus der Notsituation der Nachkriegszeit heraus ein Rückgriff auf die Weimarer Schulbücher nahelag und ein größerer Umbruch erst in den 1960er Jahren erfolgte.
Gleichwohl bietet Jacobmeyers Darstellung, gerade weil sie auf festen bibliografischen Streben steht, ein sicheres Gerüst: Nach der Entstehung des "modernen" Schulgeschichtsbuchs im 18. Jahrhundert, das den Schritt "von der Katechese zur Narrativität" (30) macht und zusehends einer "linearen Geschichtsvorstellung" folgt, verengt sich in den einschlägigen Werken des 19. Jahrhundert die Universalgeschichte zur Nationalgeschichte und es bildet sich ein "gegliederter Formenreichtum der Lehrbücher" (127) heraus, in der sich die schulgeschichtliche Entwicklung ebenso widerspiegelt wie die didaktisch-methodische Ausrichtung des Geschichtsunterrichts. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das wilhelminische Kaiserreich dar, das auch quantitativ betrachtet als "Zentrum der Gattungsgeschichte" (177) zu gelten hat, während die Weimarer Republik als kurze Übergangszeit erscheint, in der sich fortwirkende Traditionen und schüchterne Neuansätze überschneiden: "Das aufgelöste Geschichtsbild der Weimarer Republik gestattete die Koexistenz diffuser Konzepte für den Geschichtsunterricht" (216). Die Entwicklung im Nationalsozialismus betrachtet Jacobmeyer als "vollständig von jeder früheren Periode der Gattungsgeschichte abgesondert" (227), wobei sich die Sonderstellung relativiert, wenn man in Rechnung stellt, dass viele Lehrwerke aus der Weimarer Republik - mit nationalsozialistisch durchtränkten Ergänzungen - zunächst noch in Gebrauch blieben, während die nach den ideologischen Vorgaben erst allmählich neu entstehenden Schulbücher angesichts der Kriegssituation nicht mehr die gewünschte Breitenwirkung entfalten konnten.
Insgesamt bietet Jacobmeyer mit seiner umfangreichen Edition nicht nur ein äußerst hilfreiches Hilfsmittel bei der Suche nach Schulgeschichtsbüchern, sondern auch eine überaus interessante und anregende Textsammlung, die - entsprechend gelesen - eine Vielzahl von Perspektiven eröffnet. Der als Einführung gedachte und als eigenständige Monografie zu lesende "Abriss der Gattungsgeschichte" bietet eine "kleine", aber ausbaufähige Geschichte des Schulgeschichtsbuchs.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Bernd Schönemann / Holger Thünemann: Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis, Schwalbach/Ts. 2010, 21-48.
[2] Wolfgang Jacobmeyer: Das Schulgeschichtsbuch - Gedächtnis der Gesellschaft oder Autobiographie der Nation?, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik, 26 (1998), H. 1/2, 26-35.
Ulrich Baumgärtner