Christoph Jahr: Antisemitismus vor Gericht. Debatten über die juristische Ahndung judenfeindlicher Agitation in Deutschland (1879-1960) (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts; Bd. 16), Frankfurt/M.: Campus 2011, 475 S., ISBN 978-3-593-39058-1, EUR 39,90
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In der Nacht auf den 25. Dezember 1959 besudelten zwei Rechtsextremisten die neu errichtete Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen und der Parole "Deutsche fordern: Juden raus". Der öffentlichen Empörung zum Trotz folgten bis Ende Januar 470 weitere, gegen Juden und jüdische Einrichtungen gerichtete Vorfälle. Die antisemitische Welle erreichte eine in der Bundesrepublik bis dahin unbekannte Dimension. Nicht der Ereigniskette an sich gilt das vorwaltende Interesse der Berliner Habilitationsschrift (Humboldt-Universität, 2006) von Christoph Jahr über die Strafverfolgung "judenfeindlicher Agitation" zwischen 1879 und 1960, sondern der heftigen, überwiegend regierungskritischen Debatte, die der Skandal in der Presse und den Parlamenten auslöste. Denn der Sturm der Entrüstung beschleunigte die Novellierung des Paragraphen 130 StGB in einer bis heute nachwirkenden Fassung: "Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er 1. zum Hass gegen Teile der Bevölkerung anstachelt, 2. zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder 3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. Daneben kann auf Geldstrafe erkannt werden." Damit waren die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, die "systematische Aufhetzung gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen" (380) strafrechtlich wirksam zu verfolgen.
Trotz der bewusst allgemeinen Formulierung war der neue Paragraph 130 StGB de facto "ein Sondergesetz zum Schutz der Juden vor antisemitischer Agitation" (ebd.). Als solches ist er ein Eckstein in der Geschichte der Judenemanzipation in Deutschland. Zugleich markieren Inhalt und breite Akzeptanz der Gesetzesnovellierung eine Wende im ethischen, politischen und moralischen Bewusstsein in der Bundesrepublik. Diese doppelte Zäsur stellt den Zielpunkt von Jahrs Untersuchung dar. Sie führt moderne Antisemitismusforschung und Rechtsgeschichte zusammen. Im Kern geht es um drei Fragen: In welcher Weise und aus welchen Motiven wurde antisemitische Diffamierung und Hetze zwischen 1879 und 1960 juristisch geahndet? Wie reagierten Politik und Öffentlichkeit auf die antijüdische Agitation? Welche Bedeutung hatten die meist heftigen Debatten über die Prozesse, die als Justizskandal empfunden wurden, für die Sensibilisierung der deutschen Gesellschaft gegen den Antisemitismus?
Nach eingehender Darlegung seiner methodischen und begrifflichen Prämissen (1. Kapitel) führt Jahr informativ in die Struktur des preußischen Justizwesens und die Entwicklung des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert ein (2. Kapitel). Sachgerecht erläutert er die zentralen Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches von 1871, die auf Fälle individueller und kollektiver Diffamierung von Juden als Juden dem Wortlaut nach Anwendung finden konnten. Im Wesentlichen handelte es sich um die Straftatbestände "Anreizung zum Klassenhass" (§ 130), "Gotteslästerung" und "Religionsbeschimpfung" (§ 166) sowie "Beleidigung" (§ 185 ff.). Durch sie sollten nach liberalen Vorstellungen vier Rechtsgüter geschützt werden: der öffentliche Frieden, religiöse Empfindungen, die Ehre und die Menschenwürde.
Die Antisemitenprozesse im Kaiserreich (3. Kapitel) zeigen, wie weit der preußische Staat von der Durchsetzung elementarer Bürgerrechte noch entfernt war. Der Massenagitation des organisierten Antisemitismus und selbst dem vulgären Auftreten prominenter Radauantisemiten vom Schlage Hermann Ahlwardts oder des Grafen Pückler standen die Verantwortlichen in Regierung, Verwaltung und Polizei lange mit "demonstrativem Desinteresse" oder auch "wohlwollender Neutralität" (240 f.) gegenüber. Mit repressiver Härte reagierte die Justiz vor allem dann, wenn die Autorität des monarchischen Staates auf dem Spiele stand. Die strafrechtliche Verfolgung der antisemitischen Agitatoren verdankte sich jedenfalls nicht der Judenfeindschaft als solcher. Politik und Gerichte unterschieden alsbald zwischen dem "radikalen", den öffentlichen Frieden störenden und einem angeblich legitimen, "gemäßigten" Antisemitismus. Vor allem in konservativen Kreisen griff das verhängnisvolle Vorurteil um sich, "die Juden" provozierten durch ihr Verhalten die gegen sie gerichtete Feindschaft selbst. Immerhin erkannte das Reichsgericht 1899 in einer Grundsatzentscheidung den jüdischen Bevölkerungsteil als eine eigene, durch Religion und Abstimmung unterschiedene "Klasse" an. Das eröffnete prinzipiell die Möglichkeit, antisemitische Agitatoren wegen "Anreizung zum Klassenhass" (§ 130 StGB) zu verfolgen. Die kurze Zeitspanne bis zum Ersten Weltkrieg reichte indes nicht aus, das Rechtssystem auf dieser Basis fortzuentwickeln.
Zwischen den Weltkriegen (4. Kapitel) gewann der judenfeindliche Radikalismus rasch an Boden. Nun wurde es "bis weit ins bürgerliche Lager hinein" üblich, "die Juden" für Kriegsniederlage, Revolution und Inflation verantwortlich zu machen (313). Aus dieser Stimmungslage erklären sich zahlreiche Skandalurteile. Das Absingen brutaler Lieder ("Schlagt alle Juden tot") blieb in den Anfangsjahren der Weimarer Republik ebenso ungesühnt wie das provokative Ausspucken vor jüdischen Friedhöfen. Ein rechtsradikaler Staatsanwalt hebelte den Paragraphen 130 StGB mit dem Argument aus, die Verse "Schmiert die Guillotine ein mit Judenfett" forderten nicht zum "Klassenkampf" auf, sondern verschärften "höchstens die Rassengegensätze" zwischen "Deutschen" und "Juden" (265). Selbst rechtsextremistischen Gewalttätern bestätigten die Gerichte die "Ehrenhaftigkeit ihrer Motive". Zwar wurden gegen mehrere NS-Größen, darunter Hermann Esser und Alfred Rosenberg, drastische Strafen verhängt, aber aufs Ganze gesehen fehlte der Weimarer Justiz, namentlich auch dem Reichsgericht, die Konsequenz, gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus rückhaltlos vorzugehen, wozu das "Republikschutzgesetz" eine Handhabe geboten hätte. Nach 1933 wurde der radikale Antisemitismus zur "staatlich anerkannten Norm" (285). De jure blieben zwar Gewalttaten gegen Juden strafbar, de facto aber erreichte die Umkehrung aller Werte ihren erschütternden Höhepunkt.
In der Nachkriegszeit und in den 1950er Jahren (5. Kapitel) bedurfte es mehrerer Skandale (Fälle Harlan, Hedler, Nieland, Schmierwelle 1959) bis sich im Bundestag unter dem Druck der öffentlichen Meinung die Auffassung durchsetzte, dass Antisemitismus und Demokratie unvereinbar sind. Im Wandel hin zu einem nun "stark normativ gefüllten" Verständnis von Demokratie sieht Jahr das "wichtigste Ergebnis der Debatte um die Bekämpfung des Antisemitismus" (396) in der Adenauerzeit.
Der geographische Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf Preußen und Berlin, nach 1945 auf den Westzonen und der Bundesrepublik. Inhaltlich konzentriert sich die ausgewogene rechtsgeschichtliche Analyse auf die Ahndung der öffentlichen antisemitischen Agitation in Wort, Schrift und Bild. Der im privaten Bereich angesiedelte "zwischenmenschliche Alltagsantisemitismus" (15) und der Straftatbestand physischer Gewaltausübung gegen Juden bleiben ausgeklammert. Sodann stützt sich Jahrs Analyse weitgehend auf die spektakulären, skandalumwitterten Strafprozesse, die in den zentralen Akten des Justizressorts (Anklageschriften, Urteilsbegründungen, Revisionsanträge) und in großen öffentlichen Debatten ihren Niederschlag fanden. Die einschlägige Presse wird hauptsächlich in ihrer Funktion als Indikator für die öffentliche Meinung ausgewertet. Die zahlreichen "normalen" Prozesse, die wegen antisemitischer Agitation angestrengt wurden, bleiben weitgehend unberücksichtigt, auch auf ihre statistische Erfassung wird verzichtet. Die bewusst in Kauf genommenen Einschränkungen machen den Blick frei für die historischen, gesellschaftlichen und normativen Voraussetzungen, aber auch die Grenzen des Versuchs, der antisemitischen Agitation durch juristischen Repressionsdruck zu begegnen. Sodann bringt die Darstellung der Justizskandale schlagend ins Bewusstsein, in welch hohem Maße die Rechtsprechung von der jeweiligen Wahrnehmung des Antisemitismus in Politik und Gesellschaft abhängig war. Aufs Ganze gesehen hat Jahr die Geschichte des überaus komplexen Beziehungsgefüges von Antisemitismus, Recht und Justiz in Deutschland in einem wesentlichen Teilbereich eindrucksvoll erschlossen.
Volker Dotterweich