Karl-Heinz Lipp / Reinhold Lütgemeier-Davin / Holger Nehring (Hgg.): Frieden und Friedensbewegungen in Deutschland 1892-1992. Ein Lesebuch (= Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung; Bd. 16), Essen: Klartext 2010, 429 S., ISBN 978-3-8375-0382-1, EUR 22,00
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Der Editionstätigkeit der KPdSU ist es zu danken, dass wir Lenin bei der Lektüre von Vom Kriege über die Schulter blicken können. Carl von Clausewitz schrieb: "Der Krieg ist mehr für den Verteidiger als für den Eroberer da, denn der Einbruch hat erst die Verteidigung herbeigeführt, und mit ihr erst den Krieg. Der Eroberer ist immer friedliebend [...] , er zöge gern ruhig in unseren Staat ein; damit er dies aber nicht könne, darum müssen wir den Krieg wollen und also auch vorbereiten". In seiner Ausgabe vermerkte Lenin dazu: "haha! geistreich!" [1] Im 20. Jahrhundert hat es sich mehrfach ereignet, dass Staaten von Aggressoren überwältigt wurden, ohne militärischen Widerstand zu leisten. Der Tschechoslowakei widerfuhr dies 1938 und 1968. Die baltischen Staaten verloren 1940 ihre Souveränität, ohne dass sie der sowjetischen Aggression mit einem Krieg entgegengetreten wären.
In dem hier angezeigten Band soll eine Reihe von Quellentexten die Friedensbewegung in Deutschland dokumentieren. In sieben Teilen werden Quellen zum Pazifismus vor und während des Ersten Weltkrieges, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und der DDR sowie im wiedervereinigten Deutschland abgedruckt. Ergänzt wird dies durch zeitgenössische Fotos und Plakate, dazu eine Auswahlbibliographie und ein einleitender Essay über "Frieden als Herausforderung für die deutsche Geschichte". Dies entspricht einer auf Nationalgeschichte fokussierten Tradition, andererseits blendet der auf Deutschland verengte Blick aber viele kritische Fragen aus, die bei einer stärker transnationalen Betrachtungsweise an den Pazifismus gestellt werden müssten.
Vor dem Hintergrund der Erfahrung des Ersten und Zweiten Weltkrieges erscheinen die pazifistischen Aufrufe und Mahnungen als ebenso prophetisch wie berechtigt: Die zweifache deutsche Kriegsschuld und die totale moralische Niederlage von 1945 sind gleichsam eine schwarze Wand, auf der das Weiß des Pazifismus umso stärker leuchtet. Da es sich beim Pazifismus aber, so die Meinung des Rezensenten, um eine utopische Weltanschauung handelt, dient eine solche Schwarz-Weiß-Gegenüberstellung zwar der Selbstvergewisserung seiner Anhänger, nicht aber dem Erkenntnisgewinn in der wichtigen Frage von Krieg und Frieden.
Um zu verdeutlichen, was gemeint ist, sei in den Dokumententeil zum NATO-Doppelbeschluss von 1979 gesprungen. Dort findet sich auch ein Auszug aus einer Rede des CDU-Politikers Heiner Geißler, welcher ganz im Geist der seinerzeitigen Friedensbewegung eingeleitet wird: "Auf der Sitzung des Bundestages am 15.6.1983 machte Heiner Geißler [...] 'den Pazifismus' für den Zweiten Weltkrieg und die Judenvernichtung verantwortlich. Diffamiert werden sollte damit die bundesrepublikanische Friedensbewegung, gerechtfertigt werden sollte die Militärpolitik des Westens." (369) Die Herausgeber lassen dabei unerwähnt, dass die Einlassungen Geißlers eine Replik auf eine Interview-Äußerung Joschka Fischers waren, in der dieser eine Linie von Auschwitz zur nuklearen Abschreckung gezogen hatte. [2] Mit dem Hinweis auf die britisch-französische Appeasement-Politik und die ihr zugrunde liegenden pazifistischen Gefühle artikulierte Geißler aber nur historische Erfahrungen, die auch Manès Sperber im Herbst 1983 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Erinnerung rufen sollte. Sperber, der den Ersten Weltkrieg als Kind bewusst erlebt und sich in den 1920er Jahren der Friedensbewegung angeschlossen hatte, war ein Überlebender der wilden Konzentrationslager unmittelbar nach der nationalsozialistischen "Machtergreifung". Vom Exil aus hatte er hernach davor gewarnt, der Erpressungspolitik Hitlers nachzugeben, und war deshalb von der NS-Propaganda als Kriegshetzer beschimpft worden. In seiner Rede, die die Herausgeber leider nicht aufgenommen haben, mahnte Sperber, angesichts der sowjetischen Drohpolitik nicht die Fehler der 1930er Jahre zu wiederholen: "Jeder aber sollte wissen, daß Erpresser um so mehr verlangen und um so bedrohlicher werden, je öfter man ihnen nachgegeben hat. [...] Wer jedoch glaubt und glauben machen will, daß ein waffenloses, neutrales, kapitulierendes Europa für alle Zukunft des Friedens sicher sein kann, der irrt sich und führt andere in die Irre. Wer für die Kapitulation vor jenem bedrohlichen Imperium eintritt, das seit dem Zweiten Weltkrieg mehrere europäische Staaten in Satelliten verwandelt hat, irrt sich und führt andere in die Irre." [3]
Tatsächlich demonstriert die Lektüre der in dem "Lesebuch" versammelten Quellen nur, wie sehr es sich bei der Rede Sperbers um ein Schlüsseldokument handelt, eben weil sie die in dem Band zusammengetragenen historischen Erfahrungen aus der Perspektive des Miterlebens heraus reflektiert. So beschwor die Friedensbewegung vor dem Ersten Weltkrieg zwar wortreich die Schrecken des Krieges, blieb aber bei Kriegsausbruch völlig wirkungslos. Viele ihrer zur Absicherung des Friedens entwickelten Ideen und Konzepte waren durchaus zukunftsweisend, dem Denken der übrigen Zeitgenossen aber so fremd, dass sie auf deren Kriegsbereitschaft keinerlei Einfluss hatten. Die Lektüre verdeutlicht den tiefen kulturellen Graben, der die pazifistischen Milieus von der militarisierten Gesellschaft des Kaiserreichs trennte. Bürstet man die Dokumente gegen den Strich, so fällt aber auch auf, wie liberal und rechtstaatlich die deutsche Kriegsgesellschaft von 1914/18 mit ihren pazifistischen Kritikern verfuhr. Von einer Märtyrerkirche kann man beim deutschen Pazifismus während des Ersten Weltkriegs nicht sprechen.
Die Dokumente zur Weimarer Republik zeigen das Ausmaß der Friedlosigkeit, das die deutsche Gesellschaft nach Kriegsende prägte. Eine Ursache hierfür war sicherlich der Versailler Vertrag, den Ludwig Quidde, der Nestor des deutschen Pazifismus, mit deutlichen Worten kritisierte, während andere Vertreter der Friedensbewegung die darin enthaltene Festlegung zur Kriegsschuldfrage zum Ausgangspunkt einer aus der christlichen Eschatologie abgeleiteten Sündenlehre machten. Die heftige Kritik vieler Pazifisten an der Weimarer Militärpolitik trug sicherlich nicht zur Stabilisierung der ersten deutschen Demokratie bei, die sich aufgrund der Bestimmungen des Friedensvertrages nahezu wehrlos durchaus feindseligen Nachbarn gegenüber sah. Auch hier war es Quidde, der vor der Maßlosigkeit mancher pazifistischen Kritiker warnte.
1933 gehörten die Pazifisten zu den Opfergruppen, die die völlig enthemmte Gewaltbereitschaft des NS-Regimes sofort zu spüren bekamen. Hier bleiben die ausgewählten Dokumente aber erstaunlich blass; Sperbers Romantrilogie "Wie eine Träne im Ozean" zeigt sehr viel schmerzlicher, wie die selbsternannten Herrenmenschen mit ihren waffenlosen Widersachern verfuhren.
In den Dokumenten zu den beiden deutschen Staaten im Kalten Krieg bleibt die Frage, inwieweit die Friedensbewegung in der Bundesrepublik ein Instrument sowjetischer Machtpolitik war, gänzlich unreflektiert. Die hierzu vorhandene Forschungsliteratur wird in der Auswahlbiographie konsequenterweise ausgeblendet. [4] Leider haben die Herausgeber auch keine Dokumente mehr zum Kosovo-Krieg aufgenommen, den die stark pazifistisch motivierten Grünen als Regierungspartei mittrugen.
Insgesamt hätte der Auswahl mehr Mut zur Kritik am eigenen Milieu gut getan, andererseits liest der Historiker Quellen niemals ohne Gewinn.
Anmerkungen:
[1] W.I. Lenin: Clausewitz' Werk "Vom Kriege". Auszüge und Randglossen, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost) 1957, 23f.
[2] Vgl. dazu Jeffrey Herf: War by Other Means. Soviet Power, West German Resistance, and the Battle of the Euromissiles, New York u.a. 1991, 186.
[3] Manès Sperber: Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 16. Oktober 1983, in: Wohin treibt die SPD? Wende oder Kontinuität sozialdemokratischer Sicherheitspolitik, hgg. von Jürgen Maruhn / Manfred Wilke, München 1984, 173-185, hier 181f.
[4] Zum Forschungsstand vgl. Gerhard Wettig: Die Sowjetunion in der Auseinandersetzung über den NATO-Doppelbeschluß 1979-1983, in: VfZ 57 (2009), 217-259.
Michael Ploetz