Rezension über:

Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. Aus dem Englischen von Waltraud Götting, Andreas Wirthenson und Annabel Zettel, München: C.H.Beck 2011, 816 S., ISBN 978-3-406-62147-5, EUR 39,95
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Rezension von:
Andreas Plackinger
München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Plackinger: Rezension von: Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. Aus dem Englischen von Waltraud Götting, Andreas Wirthenson und Annabel Zettel, München: C.H.Beck 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 6 [15.06.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/06/20224.html


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Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

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Gerade noch rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft veröffentlichte der C.H. Beck Verlag im letzten Jahr Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. [1] Wenige Wochen später, im Januar 2012, erschien bereits eine Neuauflage. Der Erfolg des monumentalen Bandes (816 Seiten) mit dem nicht weniger monumentalen Titel verrät es auf Anhieb: Es handelt sich hier um eine populärwissenschaftliche Publikation. Ihr Verfasser - oder eher Vertreter ihres Autorenkollektivs (789) -, Neil MacGregor, ist einer der renommiertesten Kunsthistoriker und Kuratoren Großbritanniens. Der einstige Student Anthony Blunts, 1981-87 Herausgeber des Burlington Magazine, 1987-2002 Direktor der National Gallery in London, seit 2002 Direktor des British Museum, schlug 2008 den Direktorenposten des New Yorker Metropolitan Museum aus. [2] Angesichts eines derartig erfolgreichen Autors und des auftrumpfenden Titels muss das angenehme Understatement des Buches positiv überraschen.

MacGregors History of the World entstand aus der gleichnamigen, in Kooperation mit der BBC erarbeiteten und 2010 ausgestrahlten Radio-Serie, in der in 100 Folgen jeweils ein Objekt aus dem British Museum vorgestellt wurde, wobei ein chronologisch und geografisch möglichst weitgefasster Horizont anvisiert worden war. [3] Jeweils 5 Objekte wurden zu einer von insgesamt 20 thematischen Einheiten zusammengefasst, in der ein bestimmter Aspekt der Menschheitsgeschichte im Fokus stand. Dem ursprünglich nichtvisuellen Medium geschuldet, nimmt die eingehende Objektbeschreibung in MacGregors identisch aufgebautem Buch einen breiten Raum ein. Im Sinne einer kunsthistorischen Ikonologie wird dem Artefakt Symptomcharakter für seinen zeitlichen und kulturellen Kontext zugestanden. Mit einer Auswahl an Gegenständen vom prähistorischen Steinwerkzeug (39-43) bis zur Solarlampe (747-753), verabschiedet sich MacGregor demonstrativ sowohl von einem kunsthistorischen als auch von einem eurozentrischen Objekt-Kanon. Zwar werden vereinzelt Werke der 'Hochkunst', wie eine Metope aus dem Parthenon-Fries (215-220) oder Dürers Nashorn (557-563) besprochen, doch handelt es sich dabei um Ausnahmen. In einem grosso modo chronologisch angelegten Parforceritt um den Globus werden u.a. eine steinerne Olmekenmaske aus Mexiko (229-235), Goldmünzen aus Damaskus (355-361), Tonscherben aus Tansania (455-459) und ein hawaiianischer Federhelm (649-654) vorgestellt. Dass allein 13 von 100 Artefakten aus China oder Japan stammen sowie die Tatsache, dass die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Teil XIX u. XX) nicht einmal ein Siebtel des Buchumfangs einnimmt, belegt den Versuch, tradierte Narrative zu überwinden. Die Titel einiger Überkapitel wie VI. Die Welt in konfuzianischer Zeit (500-300 v. Chr.) oder XIX. Massenproduktion, Massenverführung (1780-1914 n. Chr.) machen dies unmittelbar deutlich.

Das Buch ist in seinem Zuschnitt als Ein unmögliches Unterfangen dazu prädestiniert, zu einem Desaster zu werden. [4] Doch das Gegenteil davon ist der Fall. Bereits die eloquente Einleitung (13-27) besticht durch ihre Methodenreflexion und ihr ausgeprägtes Problembewusstsein und liefert jenseits ihrer Funktion als captatio benevolentiae für jeden Geisteswissenschaftler eine lohnende Lektüre. Besonders die Überlegungen zum zentralen Platz der Kreativität innerhalb der Wissenschaft (Die notwendige Poesie der Dinge, 14-18) seien hervorgehoben: wissenschaftliches Arbeiten wird als Akt der Fiktionserzeugung auf der Basis von Faktenorientierung bei gleichzeitiger Transparenz des Konstruktionsvorgangs charakterisiert (16f.). Neben derartig allgemeinen Erwägungen wird die Auswahl der im Buch vorgestellten Artefakte gleichermaßen thematisiert, wie die Aporie, die sich aus dem starken Wissensgefälle bei Objekten aus Schrift- und schriftlosen Kulturen sowie der kulturell geprägten Perspektive des Betrachters ergibt (11, 14f., 18, 23).

Auf dieses Dilemma wird reagiert, indem zum einen, die Provenienz- und damit Rezeptionsgeschichte der Gegenstände stark gemacht wird - in Interviews kommen neben hochkarätigen Experten, wie dem Gouverneur der Bank of England (535, 538, 540) oder Politikern wie Kofi Annan (734f.), auch Intellektuelle aus 'Entwicklungsländern' zu Wort, die ihre Sicht auf ein besprochenes historisches Objekt aus ihrer Heimat schildern. Zum anderen werden Bezüge zu Gebrauchspraxis oder gesellschaftlicher Funktion heutiger vergleichbarer Artefakte hergestellt und damit ein eher ethnografischer Zugang gewählt. Das Bewusstsein für diskursive und kulturelle Determinationen bleibt als Korrektiv zur vertretenen Grundidee anthropologischer Konstanten stets präsent. Und so gelingt es dieser Geschichte der Welt sowohl den Fallstricken eines kolonialen Blicks zu entgehen als auch eine pathetisch-versimplifizierende Great-Family-of-Mankind-Rhetorik zu vermeiden.

Dem Leser wird der Überblick durch Sachregister, Landkarten sowie Abbildungsmaterial in einem quantitativ stimmigen Verhältnis zum Text erleichtert. [5] Die unterhaltsame, unprätentiöse und dadurch transparente, regelrecht kristalline Sprache der englischen Originalausgabe leidet allerdings deutlich unter der teilweise missglückten deutschen Übersetzung, die oft nicht nur zwanghaft modern, sondern zuweilen inhaltlich fehlerhaft ist. [6] Das Buch, das auf diese Weise an vielen Stellen einen banalen Ton erhält, den es in der Originalfassung so nicht besitzt, wird dadurch insgesamt abgewertet, obwohl angemerkt werden muss, dass MacGregor in seinen Konzessionen an die Populärkultur im Einzelfall - allerdings niemals durch das Medium Sprache - manchmal tatsächlich bis an die Grenzen der Anbiederung vorstößt. [7]

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten zeichnet aus, dass hier verschiedene Lese-Ebenen angeboten werden. Der kunsthistorisch unvorbelastete Laie wird lehrreich unterhalten und dabei ebenso auf seine Kosten kommen wie der Kunsthistoriker, der - und das ist das Erstaunliche -, in einem populärwissenschaftlichen Buch die im Fach aktuell diskutierten methodischen Ansätze wiederfindet: Die Idee einer World Art ist hier in gleichem Maße zentral wie die neuerdings wieder aktuelle Frage nach dem Objekt. [8] Seit längerer Zeit erschlossene Zugänge, wie die Relativierung von ästhetischen Werturteilen und der Abschied von einer Idee der Hochkunst bei gleichzeitiger Öffnung für Fragen nach Rezeption, Gebrauch, anthropologischer und kultureller Disposition im Umgang mit Artefakten bilden den Subtext dieses Buches.

Wie die in ihm verhandelten Objekte wird dieser Band selbst zu einem Artefakt, das über den Zustand der (Wissens) Kultur seiner eigenen Entstehungszeit Aufschluss gibt. MacGregors Buch zeigt, wie am Puls der Forschung und doch gänzlich unverkrampft moderne Museums- und Vermittlungsarbeit aussehen kann und folgt damit den Spuren gelungener Publikationen des British Museum, wie etwa Kim Sloans Enlightenment, denen es gelang, anhand der Bestände der Great Russel Street übergreifende Fragekomplexe zu öffnen. [9]

MacGregors Buch ist damit auch und nicht zuletzt ein Plädoyer für das Konzept 'Museum' als solches. Ganz im Sinne der Gründerväter des British Museum, die der Autor in seiner Einleitung beschwört, wird das Ideal eines offen zugänglichen Ortes des Bewahrens und des lebendigen Wissens zur Erschließung der Welt entworfen. Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten ist ein Beitrag zur Annäherung an dieses Ideal und der Versuch, dem besonders seit Quatremère de Quincy wiederholt gegen das Museum als Institution erhobenen Vorwurf der Dekontextualisierung charmant aber entschieden entgegen zu treten. [10]


Anmerkungen:

[1] Neil MacGregor: A History of the World in 100 Objects, London 2010, 707 S., ISBN 978-1-846-14413-4, BP 30.00.

[2] Darüber hinaus wurde MacGregor in der Pink List der einflussreichsten Homosexuellen 2007 aufgeführt (The Independent, 06.05.2007), zum Briton of the year gewählt (The Times, 27.12.2008) und bekam 2010 von der Queen den Order of Merit verliehen: http://www.royal.gov.uk/LatestNewsandDiary/Pressreleases/2010/MrNeilMacGregorappointedtotheOrderofMerit4November.aspx (aufgerufen am 11.05.2012).

[3] http://www.bbc.co.uk/ahistoryoftheworld/ (aufgerufen am 11.05.2012).

[4] Ein unmögliches Unterfangen ist der Untertitel des Vorworts, 11f.

[5] Insgesamt ist das Layout von einer anspruchsvollen Dezenz. Die Isolierung der Einzelobjekte vor tiefdunklem Grund verleiht den Abbildungen gleichwohl eine gewisse Dramatik, wie sie momentan häufig in der Szenografie groß angelegter Wechselausstellungen und neuerdings sogar vereinzelt in der Museografie ständiger Sammlungen zu beobachten ist. Diese Parallele ist sicherlich kein Zufall, sondern vielmehr ein Zeugnis für die Herkunft des Buches.

[6] Im Fall der römischen Warren Cup (281-287) liest man tatsächlich: "Die Szenen auf dem Kelch sind Reliefe [...]" [sic], 281. Vgl. engl. Ausgabe: "The scenes on the cup are in relief [...]", 229. Im Kommentar zum Kopf einer Messingstatue aus Ife (475-479) wird die englische Vokabel 'level' nicht etwa mit 'Niveau' übersetzt, sondern unverändert als Anglizismus beibehalten, was sich folgendermaßen liest : "Dass sich die schwarzafrikanische Kultur auf einem so hohen Level befand, war für Europäer vor hundert Jahren ganz einfach unvorstellbar", 476. Vgl. engl. Ausgabe: "The idea of black African civilization on this level was quite simply unimaginable to a European a hundred years ago", 406. In der Besprechung einer Inka-Statuette eines Lamas (543-548) heißt es in der deutschen Übertragung unbeholfen: "Am Ende war alles ganz schnell vorbei [...]", 548. Vgl. engl. Ausgabe: "It was all over fairly quickly", 475. Und der in der Einleitung der engl. Ausgabe erwähnte "American War of Independence" (XVI) wird in der deutschen Fassung als "der Amerikanische Bürgerkrieg" [sic] übersetzt, 14.

[7] So, wenn Harry Potters Eule Hedwig bemüht werden muss (435), um auf die mittelalterlichen Hedwigsbecher aus syrischem Bergkristall zu sprechen zu kommen, 435-440.

[8] Zur "World Art" als Ansatz siehe Kitty Zijlmans / Wilfried van Damme (eds.): World Art Studies: Exploring Concepts and Approaches, Amsterdam 2008. Bezeichnend auch das Thema des diesjährigen CIHA in Nürnberg (15.-20.07.12): Die Herausforderung des Objekts. Beim nächsten Jahrestreffen der Renaissance Society of America (San Diego, 04.-06.04.2013) ist ein eigenes Panel für die Frage nach The Social Life of Things vorgesehen.

[9] Kim Sloan (ed.): Enlightenment. Discovering the World in the Eighteenth Century, London 2003. Ein anderes Beispiel ist Lucilla Burn: The British Museum Book of Greek Art, London 1991.

[10] Antoine Chrysostôme Quatremère de Quincy: Lettres à Miranda [1796/97], éd. par Édouard Pommier, Paris 1989.

Andreas Plackinger