Andreas Zangger: Koloniale Schweiz. Ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860-1930) (= 1800/2000 Kulturgeschichten der Moderne; Bd. 8), Bielefeld: transcript 2011, 473 S., einige z.T. farbige Abb., ISBN 978-3-8376-1796-2, EUR 36,80
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Globalhistorische und postkoloniale Ansätze prägen mittlerweile die Geschichtswissenschaft in einer Weise, die man bis vor kurzem kaum für möglich gehalten hätte. Dies lässt sich daran ablesen, dass sie inzwischen auch die Schweiz erreicht haben. In den letzten Monaten erschienen verschiedene Bücher mit Titeln wie "Postkoloniale Schweiz", "La suisse Coloniale" [1] oder - wie beim hier zu besprechenden Buch - "Koloniale Schweiz". Diese Entwicklung ist insofern bemerkenswert, als noch vor wenigen Jahren die Ansicht vorherrschte, dass es zwar durchaus plausibel sei, die Verflechtungen von klassischen Kolonialmächten wie Spanien, den Niederlanden oder Großbritannien mit der außereuropäischen Welt in den Blick zu nehmen. Für koloniale Nachzügler wie Deutschland - und noch viel mehr für Länder ohne Kolonialbesitz wie die Schweiz - sei ein solcher Ansatz hingegen wenig geeignet, denn, wie Ann Laura Stoler und Frederick Cooper in ihrem 1997 erschienen Standardwerk "Tension of Empire" anführten: "nineteenth-century Great Britain or Holland was not Switzerland" [2].
Derartige Vorbehalte wurden in den letzten Jahren schrittweise ausgeräumt. In verschiedenen Studien wurde gezeigt, wie sehr auch Länder ohne Kolonialbesitz durch den Kolonialismus geprägt wurden. Die hier vorliegende Zürcher Dissertation von Andreas Zangger, welche die Netzwerke zwischen Schweizer Kaufleuten, Plantagenbesitzern, Naturforschern und Technikern im kolonialen Südostasien untersucht, ist somit nicht nur für die schweizerische Geschichte von Interesse. Sie ist ein weiterer Prüfstein dafür, ob die von der postkolonialen Theorie vertretene Forderung, die europäische und die koloniale Welt in einem gemeinsamen Analyserahmen zu untersuchen, tatsächlich zu empirisch validen Resultaten führt.
Die Studie umfasst drei inhaltliche Hauptteile. Im ersten Teil untersucht der Autor die Aktivitäten von Schweizer Kaufleuten im kolonialen Singapur. Diese erfüllten eine wichtige Funktion für die schweizerische Wirtschaft, da Asien im 19. Jahrhundert ein wichtiger Absatzmarkt für die Schweizer Exportwirtschaft war. So zeigt der Autor, wie die Schweizer Kaufleute mit Hilfe von chinesischen Mittelsleuten Kontakte zu einheimischen Kaufleuten herstellen konnten. Die Vermarktung der importierten westlichen Industrieprodukte erfolgte nicht zuletzt durch die sorgfältige Gestaltung von Warenetiketten, welche durch die Verwendung von asiatischen Motiven dem lokalen Geschmack angepasst wurden. Die Schweizer Kaufleute kooperierten häufig mit Bremer und Hamburger Handelshäusern. Dabei kümmerten sich die Deutschen um den Export von asiatischen Rohstoffen nach Europa und die Schweizer um den Import von europäischen Industrieprodukten. Diese Arbeitsteilung war derart erfolgreich, dass im niederländischen Parlament Anfragen erfolgten, weshalb die deutschen und schweizerischen Kaufleuten die Bedürfnisse der asiatischen Kundschaft so viel besser kennen würden als die holländischen Handelshäuser.
Im zweiten Teil wird die Plantagenkultur in Ostsumatra behandelt. Dort bezogen die Europäer, anders als beispielsweise in Java, die für den Export bestimmten Rohstoffe nicht von der lokalen Aristokratie, sondern sie betrieben eigene Plantagen für den Anbau von Tabak, Kaffee, Gummi, Palmöl und Tee. Schweizer Unternehmer besaßen zeitweilig wertvolle Plantagen, konnten diese aber oft nicht halten, so dass die meisten Schweizer ab Ende des 19. Jahrhunderts als Manager auf holländischen Plantagen tätig waren. Detailliert wird die von Selbstorganisation und dem Fehlen staatlicher Autorität geprägte Frontier-Kultur geschildert und es wird auf die misslichen Arbeitsbedingungen der chinesischen Kulis eingegangen. Diese wurden nach Sumatra gebracht, nachdem sich die Rekrutierung von einheimischen Arbeitskräften als schwierig erwiesen hatte. Welche Geisteshaltung unter den Plantagenbesitzern vorherrschte wird etwa daran deutlich, dass sie im Plantagengürtel nur deshalb Krankenhäuser einrichten, weil sie zum Schluss kamen, dass die Pflege der chinesischen Arbeiter billiger war, als wenn man diese einfach sterben ließ.
Der dritte Teil widmet sich ausführlicher als die beiden ersten den Rückwirkungen des Kolonialismus auf die schweizerische Gesellschaft. Es wird gezeigt, wie auch in der Schweiz in botanischen Gärten, Museen und Hochschulen Wissen über die Kolonien akkumuliert und klassifiziert wurde. So betrieben die Mitte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Städten gegründeten Geographischen Gesellschaften nicht zuletzt ethnographische Studien. Die Gesellschaften wurden von lokalen Kaufleuten nach Kräften unterstützt, da diese ein großes Interesse daran hatten, mehr über die soziokulturellen Besonderheiten ihrer überseeischen Absatzmärkte zu erfahren. Weiter wird geschildert, wie schweizerische Biologen wiederholt nach Südostasien reisten, um auf den dortigen Plantagen Probleme der Monokultur und Möglichkeiten der Schädlingsbekämpfung zu studieren. Dieses Wissen brachten sie zurück in die Schweiz, wo es mithalf, die Intensivierung der Agrarwirtschaft voranzutreiben.
Alles in allem hat Andreas Zangger ein lesenswertes Buch geschrieben, in dem die neuere kolonialhistorische Literatur gekonnt mit der schweizerischen Geschichte verwoben wird. Es wird eindrucksvoll gezeigt, wie sehr auch ein Land ohne eigene Kolonien durch den Kolonialismus geprägt wurde. Zu kritisieren ist an dieser Studie, der leider das Register fehlt, allerdings die häufig überkomplexe Argumentation sowie die teilweise schiefe Metaphorik. Formulierungen wie diejenige vom Schmetterling, welcher sich "in seiner vorreifen Form als Raupe [...] explosionsartig" über die Kaffeeplantagen ausbreitete (227), wirken eher unfreiwillig komisch. Darüber hinaus erscheint es zumindest fragwürdig, ob es wirklich sinnvoll ist, als analytischen Zugang für die kolonialen Abenteuer der schweizerischen Kaufleute und Plantagenangestellten sowie deren Rückwirkungen auf die schweizerische Gesellschaft die Ebene der Nation zu wählen. Zangger ist sich dessen zwar bewusst, indem er zu bedenken gibt, dass der Blick "nicht allzu schnell auf 'die Schweiz' gelenkt werden" sollte, da die Schweizer in den Kolonien meist "nicht in offizieller Mission unterwegs" waren (27). Doch wird im Buch nicht wirklich eine Alternative zum methodischen Nationalismus entworfen. Wie dies in Studien mit einer postkolonialen und transnationalen Ausrichtung häufig der Fall ist, rekurriert auch diese Untersuchung auf die Nation als eigentliches historiographisches Subjekt. Unter Umständen wäre es jedoch sinnvoller gewesen, für die Verflechtung zwischen der Schweiz und Südostasien einen sozialhistorischen Zugang zu wählen und explizit auf das Bürgertum zu fokussieren. Dies nicht zuletzt, da die in der Studie ausgeleuchteten Themenfelder Handel und Wissenschaft spezifische Betätigungsfelder des Wirtschafts- bzw. Bildungsbürgertums waren. Außerdem wird an verschiedenen Stellen angeführt, dass die Schweizer, die sich in Südostasien aufhielten, aus der Mittelschicht stammten (262) und den Aufbau einer kolonialen Ordnung als bürgerliches Projekt verstanden (174). Es ist jedoch kein geringes Verdienst von Zanggers Studie, dass sie Anregungen bietet, wie die nach wie vor meist getrennt voneinander verlaufenden Forschungszweige der europäischen Sozialgeschichte und der neueren Globalgeschichte stärker aufeinander bezogen werden könnten.
Anmerkungen:
[1] Patrick Minder: La Suisse coloniale. Les représentations de l'Afrique et des Africains en Suisse au temps des colonies (1880-1939). Bern etc. 2011; Patricia Purtschert / Barbara Lüthi / Francesca Falk (Hgg.): Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld 2012.
[2] Ann Laura Stoler / Frederick Cooper. Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: Frederick Cooper / Ann Laura Stoler (ed.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeoise World, Berkeley etc. 1997, 22.
Christof Dejung