Rudolf Bultmann / Paul Althaus: Briefwechsel 1929-1966. Herausgegeben von Matthias Dreher und Gotthard Jasper, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, VIII + 132 S., ISBN 978-3-16-150981-0, EUR 39,00
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Markus Iff: Liberale Theologie in Jena. Ein Beitrag zur Theologie- und Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Berlin: De Gruyter 2011
Rudolf Bultmann (1884-1976) und Paul Althaus (1888-1966) haben zwei Menschenalter lang zu den prägenden Theologengestalten im deutschen Protestantismus gehört. In der Zwischenkriegszeit gewann der radikal kritische Neutestamentler Bultmann Profil und Bekanntheit, als er sowohl mit Martin Heidegger als auch mit den Vertretern der dialektischen Theologie um Karl Barth in Arbeitsgemeinschaft trat und aus seinem engeren Fachgebiet heraus einen gesamttheologischen Orientierungsanspruch erhob; politisch fand er seinen Ort in der Mitte, zeitweilig auch links von ihr. Paul Althaus war Dogmatiker, Lutherforscher und Ethiker, beschäftigte sich aber auch lehrend und publizierend mit dem Neuen Testament. Politisch war er der nationalen Rechten verbunden; er arbeitete wissenschaftlich und publizistisch für die Einigung und Stärkung des deutschen Volkes und seine ethische Gesundung aus dem Geiste der lutherischen Reformation. Von Bultmann sind über Althaus zunächst absprechende Urteile überliefert (3-5). Aber dann lernten sich die beiden 1930 in Kopenhagen persönlich kennen (6; s. auch die Photographie 20), und es entspann sich ein Briefwechsel, der bis zu Althaus' Tode andauerte. Leider ist die Überlieferung lückenhaft, denn Bultmann pflegte Korrespondenzen wegzuwerfen, wenn der Briefpartner verstorben war (1f.). Die vorliegende Edition bietet sechzehn Postkarten und sechs Briefe, also insgesamt 22 Stücke, davon achtzehn von Bultmann. Dieser durchaus übersichtliche Bestand (21-54) wird gerahmt durch eine biographische Einleitung des Politologen Jasper (1-20) und einen exegetisch-theologischen Kommentar des Theologen Dreher (101-124), außerdem werden wichtige erläuternde Quellenstücke abgedruckt (59-100).
Die Korrespondenz ist thematisch durchaus vielfältig. Ein erster Schwerpunkt liegt bei Detailfragen der Paulus-Exegese. Sodann sticht ein Brief Bultmanns an Althaus vom 18. September 1933 heraus: Er dankt ihm für die Zusendung eines gedruckten Vortrags zu ethischen Problemen der Eugenik und gibt knappe, durchweg zustimmende Kommentare, die auch eigene Überlegungen andeuten. Verbindlich, differenziert und verständigungsorientiert im Ton, aber eindeutig in der Sache hatte Althaus dem Projekt der biologischen Optimierung des Menschengeschlechts durch staatliche Zwangseingriffe in den menschlichen Intimbereich eine deutliche Absage erteilt. Stellt man die tiefgreifenden mentalen und moralischen Verschiebungen in Rechnung, welche sich in den letzten achtzig Jahren ereignet haben, dann zeigt dieser Text Althaus als umfassend belesenen und gebildeten, wirklichkeitsoffenen und prinzipientheoretisch reflektierenden Ethiker, aber auch als außergewöhnlich einfühlsamen Seelsorger. Die Publikation dieses Texts wurde, als schon einige Druckexemplare vorlagen, durch das bayerische Innenministerium unterbunden. Nun wird der Vortrag hier erstmals einem breiteren Publikum zugänglich gemacht (59-76) - mitsamt dem Verbotserlass und Althaus' brieflicher Reaktion auf diesen (77-80).
Im nächsten Schwerpunkt der Korrespondenz kommt ein weiterer Teilnehmer ins Spiel: Emanuel Hirsch (1888-1972), ein enger persönlicher Freund Althaus' und politisch sein Kampfgenosse in der Zwischenkriegszeit. Anders als Althaus war der Holl- und Harnackschüler Hirsch ein radikal kritischer Theologe, aber daraus ergab sich keine Gemeinsamkeit mit Bultmann: Der Kritizismus der beiden hatte jeweils ganz unterschiedliche Wurzeln und stand im Dienste gegensätzlicher theologischer Konzeptionen. Schon 1926 hatten beide anlässlich ihrer Jesus-Bücher öffentlich die Klingen gekreuzt; das sachliche Gewicht dieser Kontroverse wird man schwerlich überschätzen können. 1940 veröffentlichte Hirsch eine historisch-theologische Untersuchung zu den neutestamentlichen Ostergeschichten, welche diese, die klassische kritische Forschung aufnehmend und zuspitzend, auf Visionen des Petrus und anderer Zeugen zurückführte und die Erzählungen vom leeren Grab etc. unverblümt als spätere Legenden einstufte. [1] Der christliche Glaube entstand, so die für Hirsch eigentlich zentrale konstruktive These, als den ersten Zeugen der gekreuzigte Jesus zum lebendigen Herrn wurde, und genau so entsteht christlicher Glaube überall, wo er entsteht: Er ist immer Glaube an Jesus und nie "Glaube" an mirakulöse Geschichtsereignisse bzw. an Berichte über sie. - Althaus schrieb ein ganzes Buch gegen Hirsch, welches immerhin in zwei Auflagen erscheinen konnte; Bultmann verfasste eine ausführliche Rezension. Die Korrespondenz zwischen Althaus und Bultmann zu diesem Thema ist umfangreich (Bultmann 27-33. 41f.; Althaus 34-41), und sie ist kompliziert. Einig sind beide in ihrer Ablehnung von Hirschs in ihrer Perspektive reduktionistisch verkürzender Sicht der Dinge. Aber Althaus sieht sehr deutlich, dass Bultmann hinsichtlich der Frage der Historizität der Osterereignisse, insbesondere des leeren Grabes, sehr viel näher bei Hirsch steht als bei ihm selbst. Und im Gegenzug streicht Bultmann seine Differenzen zu Hirsch nur umso stärker heraus. Althaus postuliert die im Medium des glaubwürdigen apostolischen Zeugnisses sich präsentierende "objektive" Wirklichkeit der Wiederbelebung des Gekreuzigten. Bultmann verweigert sich diesem Rückgriff hinter die Verkündigung der ersten Zeugen und sieht eben diese, das "Kerygma", als die unhintergehbare, jeden weiteren Glauben forthin ermöglichende Bezugsgröße. So verschieden also die Positionen der beiden auf den ersten Blick sind, so bemerkenswert ist ihre Gemeinsamkeit: Beide sehen den christlichen Glauben der nachfolgenden Generationen jeweils an einen anderen Ermöglichungsgrund gebunden als den Glauben der ersten Zeugen. Auf befremdlich vollmundige Weise konnte Bultmann in diesem Zusammenhang den Osterglauben als Einstimmen in das Osterzeugnis der Kirche apostrophieren (32); Hirsch hat ihn wegen der Mischung aus Skepsis und Autoritätsglauben, die er immer wieder bei ihm wahrnahm, noch im höchsten Alter verächtlich als "Pfaffen" bezeichnen können. Dreher zeigt, dass er mit dem in dieser Invektive wirksamen Sachurteil nicht alleine stand (122 mit Anm. 71).
Die letzte inhaltlich bedeutsame Runde dieser gelehrten Korrespondenz ist dann Bultmanns berühmtem Entmythologisierungsaufsatz gewidmet, den Althaus gleich bei Erscheinen (1941) ausführlich und kritisch besprochen hat (abgedruckt 81-89): Ein wichtiges Vorspiel zur eigentlichen "Entmythologisierungsdebatte", die dann ja erst in der Nachkriegszeit wirklich begann und immerhin Bultmanns Konterfei auf das Titelblatt des SPIEGEL brachte. Als Beigaben zu diesem Thema enthält der Band noch einen kurzen Aufsatz Bultmanns zum Mythos-Begriff und einen Beitrag aus seiner Feder aus einer religionspädagogischen Fachzeitschrift.
So bietet dieser Briefwechsel sicher weder grundstürzende noch grundlegende neue Erkenntnisse, aber er bereichert doch auf dankenswerte Weise unser Wissen um atmosphärische Gegebenheiten der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts.
Anmerkung:
[1] Hirschs Arbeiten zur Christologie mitsamt den Dokumenten seiner Auseinandersetzung mit Bultmann zu diesem Thema sind unlängst wieder mühelos greifbar geworden (Dogmatische Abhandlungen I: "Jesus Christus der Herr" und andere Beiträge zur Christologie [A. v. Scheliha (Hg.): Emanuel Hirsch: Gesammelte Werke Bd. 14, Kamen 2010]), ebenfalls sein Buch über die ntl. Auferstehungszeugnisse und seine Reaktion auf Althaus' Kritik daran (Osterglaube. Die Auferstehungsgeschichten und der christliche Glaube [H.-M. Müller (Hg.): Emanuel Hirsch, Gesammelte Werke Bd. 31, Waltrop 2006]). Dass Dreher und Jasper das unerwähnt lassen, steigert den Wert ihrer Arbeit nicht.
Martin Ohst