Harald Bodenschatz (Hg.): Städtebau für Mussolini. Auf der Suche nach der neuen Stadt im faschistischen Italien (= Schriften des Architekturmuseums der Technischen Universität Berlin; 4), Berlin: DOM Publishers 2011, 520 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-86922-186-1, EUR 98,00
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Im Städtebau war das faschistische Italien in der Zwischenkriegszeit europaweit führend, nur die Sowjetunion verfolgte damals eine ähnlich weitreichende Politik der urbanen Neugestaltung. Zu dieser Einschätzung gelangt der Berliner Stadtplaner und Soziologe Harald Bodenschatz, der bislang durch mehrere einschlägige Studien vor allem zum stalinistischen Städtebau hervorgetreten ist und deshalb als ausgewiesener Experte für solche komparativen Betrachtungen gelten kann. [1] Dieser Befund mag deutsche Leser überraschen: Ihnen dürften bei diesem Thema wohl zuerst die gigantomanischen Bauprogramme des 'Dritten Reichs' mit Albert Speers Plänen zum Umbau Berlins in die Weltmetropole "Germania" in den Sinn kommen. Während jedoch im Nationalsozialismus vieles nur Reißbrettfantasie blieb, schritt man im faschistischen Italien bereits 1922 zur Tat. Immerhin war Mussolini elf Jahre vor Hitler an die Macht gekommen, er konnte eine längere Friedensperiode zur Umsetzung seiner urbanistischen Visionen nutzen. Wie Bodenschatz und seine Mitautoren Daniela Spiegel, Uwe Altrock, Lorenz Kirchner und Ursula von Petz in ihrem mit zahlreichen prachtvollen Illustrationen ausgestatteten Sammelband deutlich machen, erlebte Italien seit der Machtübernahme Mussolinis einen massiven Ausbau seiner Infrastrukturen. Das faschistische Regime errichtete nicht nur zahlreiche protzige Repräsentationsbauten für seinen wuchernden Staats- und Parteiapparat. Auch Krankenhäuser, Sportstadien, Bahnhöfe und Postgebäude kamen in schnell wachsender Zahl hinzu. Italien erlebte einen bis dahin ungekannten Bauboom, der nicht nur in erheblichem Maße zur Konsolidierung der Diktatur beitrug, sondern auch im Ausland für Aufsehen sorgte.
Der Sammelband verweist aber nicht nur auf die bedeutende Rolle, die das faschistische Italien im europäischen Städtebau einnahm, sondern auch auf dessen politische, wirtschaftliche und soziale Dimension. Dieser integrative Ansatz ist besonders verdienstvoll, da sich viele Architekturhistoriker bislang zu sehr auf ästhetische und technische Fragen konzentrierten, während umgekehrt Allgemeinhistoriker Ergebnisse, die in anderen historisch arbeitenden Disziplinen entstanden sind, bis dato nur ungenügend zur Kenntnis genommen haben. Der vorliegende Band versucht mithin Brücken zu schlagen zwischen zwei Wissenschaftsbereichen, die sich gegenseitig viel zu sagen haben.
Die Autoren spannen dabei einen weiten Bogen und behandeln nach einem kurzen Überblick über die allgemeine politische Entwicklung zwischen dem "Marsch auf Rom" 1922 und dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 eine Vielzahl von Aspekten: Dazu zählen nicht nur die Stadterweiterung und Altstadtsanierung, die infolge des dramatischen Bevölkerungswachstums in den Städten und der damit einhergehenden hygienischen und sozialen Problemlage zu zwei der brennendsten Themen italienischer Lokalpolitik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert geworden waren. Im den Blick genommen werden zudem die zahlreichen Retortenstädte, die das faschistische Regime sowohl im Mutterland als auch in seinen Kolonien errichtete; die Infrastrukturpolitik war wiederum integraler Bestandteil einer rassistischen Eroberungspolitik, die den "Lebensraum", wie es auch im Italienischen hieß, des italienischen Volkes im "Daseinskampf" mit anderen Nationen vergrößern und dem faschistischen Regime im Mittelmeerraum und Afrika eine Vorherrschaft gegenüber Großbritannien und Frankreich sichern sollte.
Die Autoren, denen es vor allem darum geht, die faschistische Städte(bau)politik einem größeren Leserkreis in Deutschland bekannt zu machen, stützen sich vornehmlich auf die umfangreiche italienische Forschungsliteratur. Daniela Spiegel und Lorenz Kirchner können aber auch auf eigene Lokalstudien zu den Stadtneugründungen des Faschismus verweisen. Um es gleich zu sagen: Der Sammelband bringt Licht ins Dunkel, hat aber auch seine Schattenseiten. Positiv hervorzuheben sind drei Aspekte: Die Beiträge informieren erstens recht gut über Einzelprojekte wie etwa die Pontinischen Sümpfe südlich von Rom, die zu dem internationalen Showroom des Regimes in Sachen Siedlungspolitik gerieten. Der Wert des Bandes liegt zweitens in seinen zahlreichen, oftmals farbigen Illustrationen, die Stadtpläne und Bauskizzen ebenso zeigen wie Werbeplakate und historische Fotographien von Rom und anderen italienischen Städten. Das Buch ist damit eine Fundgrube für alle, die in Schule, Universität oder Erwachsenenbildung Veranstaltungen zum italienischen Faschismus anbieten. Drittens sind im Anhang mehrere schriftliche Quellen erstmals in deutscher Übersetzung abgedruckt worden, die den Zugang zum Thema deutlich erleichtern und ebenfalls gut im Unterricht eingesetzt werden können.
Diesen Vorzügen stehen allerdings einige größere Schwächen gegenüber. So können Bodenschatz und seine Mitstreiter ihre selbstgesteckten Ansprüche nicht überall erfüllen. Unbefriedigend bleibt zum einen die internationale Perspektive. So stellt Bodenschatz weder einen systematischen Vergleich an, noch vertieft er die Frage nach dem Vorbildcharakter der faschistischen Baupolitik für andere europäische Staaten. Die komparativen Einsichten beschränken sich auf wenige Seiten (419 ff., 428 f). Eine Besonderheit der faschistischen Baupolitik war etwa zunächst, dass man in Italien auf eine verdichtete Bauweise setzte, wenn es um Stadterweiterungen ging; einer Suburbanisierung wurde durch große Wohnkomplexe begegnet. In diesem Punkt war Italien nicht nur anderen europäischen Ländern, sondern auch und vor allem dem nationalsozialistischen Regime weit "voraus": Die zunächst noch antiurbanistischen Ideen verhaftete deutsche Diktatur fand zu diesem Prinzip nämlich erst ab Mitte 1930er Jahre. Die Frage, ob diese Entwicklung der NS-Baupolitik möglicherweise auf ein Lernen vom faschistischen Achsenpartner zurückzuführen ist, lässt Bodenschatz leider unbeantwortet; gegenseitige Wahrnehmungs- und Adaptionsprozesse zwischen den totalitären Diktaturen der Zwischenkriegszeit streift er nur. Wie jedoch neueste Arbeiten zeigen, kam es tatsächlich zu einer partiellen Modernisierung des NS-Staates über die Ausrichtung am "Modell Mussolini". [2]
Zweitens hätte in einigen Beiträgen der Zusammenhang von weltanschaulicher Ausrichtung des Regimes und konkreter architektonischer Ausgestaltung noch stringenter herausgearbeitet werden können, wie vor allem die Beiträge zur Siedlungspolitik zeigen. Dass es im faschistischen Italien nicht zuletzt darum ging, rassistische Konzepte umzusetzen, wird lediglich erwähnt. Im Mutterland wie in den Kolonien sollte der "Neue Mensch" entstehen: Über die Verbesserung des Bodens versprach sich das Regime auch die biologische Optimierung der das Land bearbeitenden Menschen. Auch in Italien wurden Siedlungswillige deshalb von eigens einberufenen Kommissionen nach Kriterien wie Gesundheit und Kinderreichtum selektiert; Mediziner arbeiteten hier dem Regime bereitwillig zu. Ausführlicher hätte Uwe Altrock in diesem Zusammenhang auch noch auf die Apartheidsarchitektur eingehen müssen, die das faschistische Regime in Abessinien umsetzte; seine Ausführungen hierzu sind viel zu knapp geraten.
Trotzdem bieten die Autoren eine insgesamt recht gelungene Übersicht über ein in Deutschland viel zu wenig beachtetes Thema und eröffnen damit interessante Vergleichsmomente zur nationalsozialistischen Baupolitik.
Anmerkungen:
[1] Albrecht Wiesener: Rezension zu: Harald Bodenschatz / Christiane Post (Hgg.): Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929-35, Berlin 2003, in: H-Soz-u-Kult, 19.6.2004, URL http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-187.
[2] Patrick Bernhard: Metropolen auf Achse. Städtebau und Großstadtgesellschaften Roms und Berlins im faschistischen Bündnis 1936-1943, in: Berlin im Nationalsozialismus. Politik und Gesellschaft 1933-1945, hg. von Rüdiger Hachtmann / Thomas Schaarschmidt / Winfried Süß, Göttingen 2011, 132-157.
Patrick Bernhard