Georg Kastner: Ungarn 1956 vor der UNO, Innsbruck: StudienVerlag 2010, 349 S., ISBN 978-3-7065-4966-0, EUR 39,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Zwischen September 1960 und Oktober 1962 traten 23 afrikanische Staaten der UNO bei. Die Mitgliederzahl der Weltorganisation stieg damit um mehr als ein Viertel von 86 auf 109. Die im Zuge der Dekolonisierung unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten veränderten das Abstimmungsverhalten im Plenum der UNO. Denn diese neuen Mitglieder stimmten nicht einfach entweder mit den USA oder der Sowjetunion, sodass zu den bisherigen Blöcken des Westens und des Ostens ein weiterer Block hinzukam, der im Streit zwischen den Kontrahenten des Kalten Krieges oft eine eigene politische Richtung einschlug. Auch aus diesem Grund war für die meisten Staaten spätestens 1962 das Problem "Ungarn 1956" uninteressant geworden (272).
Es sind überraschende und bisher wenig bekannte Hintergründe wie diese, die das Buch von Georg Kastner auszeichnen. Das scheinbar stark bearbeitete Thema "'56" erhält zahlreiche neue Perspektiven, außerdem kann Kastner einige etwas unreflektierte Einschätzungen der bisherigen Forschungsliteratur korrigieren. Das wohl wichtigste Ergebnis seiner Studie besteht in der Herausarbeitung der Tatsache, dass die Weltorganisation keineswegs versagt hat, wie oft, besonders von ungarischer Seite, angenommen wird, ohne dass die Annahmen, auf denen diese Behauptung beruht, genauer ergründet werden. Die UNO konnte natürlich nicht die sowjetischen Panzer stoppen und die ungarischen Aufständischen direkt unterstützen; das war aufgrund der Konstruktion der Vereinten Nationen nicht möglich und von den Gründerstaaten, zu denen auch die Sowjetunion als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs gehörte, auch nicht vorgesehen. Kastner verweist aber auf die umfangreiche Hilfe des Flüchtlingshilfswerks UNHCR für ungarische Flüchtlinge, besonders in Österreich, wo im Spätherbst 1956 Zehntausende von ihnen ankamen.
Deutlich wird in diesem Buch auch, dass die UNO einen entscheidenden Beitrag zur Internationalisierung und zur Aufrechterhaltung des Druckes auf das Kádár-Regime im Anschluss an die blutige Niederschlagung der Revolution hatte. Keine der zahlreichen, teilweise auch eher obskuren, selbsternannten "Exil-Regierungen" wurde auf der internationalen Bühne so ernst genommen wie die verschiedenen Resolutionen der UNO sowie deren umfangreiche Dokumentation der Vorgänge, die das Special Committee on the Problem of Hungary unter der Leitung des sehr rührigen neuseeländischen Diplomaten Sir Leslie Knox Munro (1901-1974) ausarbeitete und veröffentlichte. Bis 1962, als diese Sonderkommission aufgelöst wurde, setzte sich Munro mit Ungarn auseinander, was nicht nur ein ständiges Ärgernis, sondern auch eine schwere Belastung der diplomatischen Beziehungen zwischen Ungarn und zahlreichen Staaten bedeutete. Kastner hat aber nicht nur die verfügbaren Akten der UNO selbst ausgewertet, sondern auch Archivalien zur Diplomatie Österreichs und der DDR sowie der CIA. So kann er nicht nur unterschiedliche Sichtweisen auf die Ereignisse von 1956 in Ungarn und in New York aufzeigen, sondern auch unterstreichen, dass die UNO zu den am besten über die Geschehnisse in Ungarn informierten Institutionen gehörte. Sehr nützlich sind außerdem der Anhang mit Kurzbiografien der wichtigsten Beteiligten, tabellarische Überblicke über Resolutionen und das Abstimmungsverhalten der Delegierten der Mitgliedsstaaten sowie einzelne Schlüsseldokumente.
Die Erkenntnisse und Thesen Kastners wären sicher noch überzeugender, wenn der Autor etwa den ausgezeichneten Sammelband zur europäischen und globalen Perspektive auf 1956 [1] oder andere Neuerscheinungen zur Weltgeschichte des Kalten Krieges herangezogen hätte. Das Buch wird dennoch unsere Kenntnis von der Ungarischen Revolution von 1956 erheblich erweitern.
Anmerkung:
[1] Carole Fink / Frank Hadler u.a. (Hgg.): 1956. European and Global Perspectives, Leipzig 2006.
Árpád von Klimó