Claudia Kemper: Das "Gewissen" 1919-1925. Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 36), München: Oldenbourg 2011, 517 S., ISBN 978-3-486-70496-9, EUR 59,80
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Der aus dem Erlebnis des Ersten Weltkriegs und Zusammenbruchs des wilhelminischen Kaiserreiches entstandene Jungkonservatismus stellte eine der Hauptströmungen innerhalb der antirepublikanischen, konservativ-revolutionären Bewegung in der Weimarer Zeit dar. Die rechtsintellektuellen Träger dieser Bewegung - Männer, die sich zur Erneuerung des Konservatismus nach dem Krieg berufen fühlten und in begrifflicher Abgrenzung vom Alt- bzw. Parteikonservatismus als "jungkonservativ" bezeichneten - schlossen sich im Frühjahr 1919 unter dem gemeinsamen Emblem des Ringes in dem Berliner Juni-Klub zusammen. Unter der geistigen Führung der beiden herausragenden Protagonisten der Jungkonservativen - Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925) und Heinrich von Gleichen-Rußwurm (1882-1959) - entwickelte der Klub sich zur Ideenzentrale und Schlüsselorganisation der Jungkonservativen in der Weimarer Republik.
Im Mittelpunkt der vorliegenden Dissertation steht die Wochenschrift Das Gewissen, die ab April 1919 als Organ des Juni-Klubs erschien und zum zentralen Medium der Jungkonservativen, zum "kommunikativen Dreh- und Angelpunkt des jungkonservativen Netzwerks" (11) avancierte. Die Veröffentlichungen im Gewissen boten den Jungkonservativen einen breiten Identifikationsrahmen sowie eine Kommunikations- und Austauschplattform über die Zugehörigkeit zum Klub hinaus. In der Arbeit werden sechs Jahrgänge der Zeitschrift (1919-1925) erfasst, der zeitliche Rahmen der Untersuchung endet mit der Umwandlung des Juni-Klubs durch Heinrich von Gleichen Ende 1924 in den aristokratisch-exklusiv ausgerichteten Deutschen Herrenklub. Über die Beschäftigung mit dem Medium der Zeitschrift hinaus werden in der Studie auch die Entstehungsbedingungen rechtsoppositioneller Bewegungen zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik berücksichtigt, somit wird das Phänomen des Jungkonservatismus in einen breiten Kontext gestellt. Die Untersuchung jungkonservativen Denkens im Spiegel des Gewissens erfolgt im Sinne einer erweiterten Intellektuellengeschichte aus einer multiperspektivischen Sicht: ideen- sowie medien- und sozialgeschichtliche Gesichtspunkte werden dabei geschickt miteinander verknüpft.
Die Leit-These der Autorin lautet, die Veröffentlichungen im Gewissen hätten eine herausragende Rolle bei der Herausbildung einer jungkonservativen Identität gespielt. Ohne die mediale Produktion und Verbreitung jungkonservativer Ideen und Weltanschauungskonzepte durch das Gewissen hätte eine jungkonservative Bewegung überhaupt nicht entstehen können. Erst durch die professionelle Nutzung medialer Distributionswege sei das jungkonservative Ideengut der Öffentlichkeit verfügbar gemacht worden und habe im politischen Diskurs Wirksamkeit erlangen können.
Zentral für die Untersuchung des jungkonservativen Denkkollektivs im Rahmen dieser Arbeit ist der Netzwerkbegriff, der aus der Sicht der Autorin am besten dazu geeignet ist, eine so heterogene Erscheinung wie der Jungkonservatismus zu charakterisieren. Dieser beruhte primär auf einem "personengestützte[n] Deutungsbündnis" und bevorzugte die Organisationsform informeller Kreise und Zirkel, deren Mitglieder "durch Sympathien, Altersgruppen, politische Ziele und Sendungsbewusstsein zusammenfanden" (16).
Die Arbeit ist in vier Kapitel gegliedert, wobei Kapitel zwei und drei das eigentliche Kernstück bilden.
Im zweiten Kapitel (Teil eins der Arbeit) werden die Bedingungen der Konstituierung des Jungkonservatismus näher beleuchtet, wobei biographische und mediengeschichtliche Annäherungsmethoden miteinander kombiniert werden. Die entscheidende Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Entwicklung eines intellektuellen Sendungsbewusstseins und die Herausbildung der jungkonservativen Weltsicht wird in diesem Kapitel besonders herausgestellt. Es wird dabei ersichtlich, wie die Gewissen-Autoren, die während des Ersten Weltkriegs mehrheitlich in die Propagandaarbeit (amtlich oder zivil) eingebunden waren und sich durch ein soziales und mentales Schützengrabenerlebnis miteinander verbunden fühlten, viele Themen und Argumentationsstrukturen der Kriegspropaganda in die Gewissen-Publizistik hineintransportierten und somit die jungkonservative Mentalität bestimmend prägten. Auch Moeller van den Bruck, der Autor des Dritten Reiches (1923) - der "Bibel" des jungen Nationalismus in der Weimarer Zeit -, spiritus rector des Juni-Klubs und zentrale Identifikationsfigur der Jungkonservativen, erfuhr durch seine Tätigkeit in der Propagandaabteilung der Obersten Heeresleitung entscheidende Prägungen. Dessen Biographie bildet einen wichtigen Schwerpunkt dieses Kapitels. Moellers Werdegang und der von ihm entwickelte typisch jungkonservative Habitus - als rechtsintellektueller Außenseiter und Wegbereiter einer noch nicht existierenden geistig-kulturellen Elite - werden im Zusammenhang mit der Analyse seiner Texte eingehend dargestellt, seine Bedeutung für die Etablierung einer jungkonservativen Identität deutlich herausgestellt.
Einen weiteren Schwerpunkt des Kapitels bildet die Zeitschrift selbst - das Gewissen, das aus medienhistorischer Sicht in seiner Funktion als Kommunikationsort und Vermittlungsinstanz der Jungkonservativen gründlich analysiert wird: Äußeres sowie inhaltliches Profil der Zeitschrift, Vertrieb, redaktionelle Organisationsabläufe, Finanzierung, Leser, Werbestrategien und Veröffentlichungspolitik werden dabei gleichermaßen berücksichtigt.
Im dritten Kapitel (Teil zwei der Arbeit) untersucht die Autorin die zentralen Bezugs- und Themenfelder der Gewissen-Publizistik - Politik, Wirtschaft, Erziehungsideale- und Bildungskonzepte, innen- und außenpolitische Ordnungsmodelle, Versailler Vertrag -, die jeweils in dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext verortet werden. Die wichtigsten Ziele der Jungkonservativen auf diesen Gebieten waren: reale politische Einflussnahme, nationale Eliteerziehung zwecks Herausbildung einer unabhängigen, diktatorisch ausgestatteten Führerschicht aus "Persönlichkeiten", einer "Geistesaristokratie" (wie dies insbesondere von Heinrich von Gleichen angestrebt wurde), Revision des Versailler Vertrages, außenpolitisch deutsche Vorherrschaft in Europa sowie innenpolitisch ein kapitalistisch-autoritäres Wirtschaftsregime.
Obwohl sich die Jungkonservativen in der Öffentlichkeit von jeglicher Parteipolitik distanzierten, keine konkreten politischen Konzepte entwickelten und sich als betont überparteilich gaben, waren sie durchaus machtorientiert und unterhielten - in der Hoffnung auf die Verwirklichung ihrer politischen Ziele - z. T. sehr enge Kontakte zu konservativen Parteien wie die DNVP, DVP, zu diversen völkischen Gruppierungen und sogar zur NS-Bewegung, zu denen sie ein spannungsreiches Verhältnis entwickelten, wie es aus der Darstellung klar hervorgeht. Trotz ihrer gelegentlichen Kritik am Kapitalismus als Ausdruck westlichen Materialismusstrebens plädierten sie für eine nationale, kapitalistische Wirtschaftsordnung und erblickten in der Gestalt des sachverständig-kompetenten Wirtschaftsführers - idealtypisch verkörpert in der Person des Industriemagnaten Hugo Stinnes (bis dieser sie im Verlauf der Ruhrkrise 1923 bitterlich enttäuschte) - die ideale politische Führerfigur. Als wichtigste Voraussetzungen für die Wiederherstellung Deutschlands nach dem Krieg forderten die Gewissen-Autoren die Revision der Versailler Friedensbedingungen, deren Notwendigkeit sie mit politischen, wirtschaftlichen und geschichtlich-kulturellen Argumenten begründeten, sowie die Stärkung der deutschen Wirtschaft. Die Auseinandersetzung der Jungkonservativen mit den wirkmächtigen Ideologien der Zeit wie Bolschewismus, Kommunismus, Sozialismus, Faschismus und Nationalsozialismus werden im Rahmen dieses Kapitels ebenfalls thematisiert, auch wenn eine eindeutige Positionierung des Jungkonservatismus innerhalb dieses Komplexes sich mitunter als schwierig erweist.
Es ist das Verdienst von Kemper, das jungkonservative Netzwerk im Umkreis des Juni-Klubs und die Vermittlung jungkonservativer Ideen in der Frühphase der Bewegung mit großer Gründlichkeit und Detailkenntnis erfasst zu haben. Ihre Studie beruht auf einer breiten empirischen Basis: zwei Drittel der 280 Gewissen-Autoren konnten - aufgrund ausführlicher Recherchearbeit und der Auswertung einer Fülle von Archivmaterial, das z. T. aus Moskau stammt - von der Autorin biographisch erfasst und über 1500 Gewissen-Artikel, die in dem Zeitraum zwischen April 1919 und Dezember 1925 erschienen sind, analysiert werden. Als sehr nützlich erweist sich für den interessierten Forscher zudem die im Anhang angefügte Tabelle mit den wichtigsten biographischen Daten der prominenten sowie auch weniger bekannten jungkonservativen Protagonisten. Mit ihrer multiperspektivischen Arbeit über das Denkkollektiv des Gewissens hat die Autorin nicht nur einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung des Jungkonservatismus geleistet und einen neuen Blick auf das rechtsintellektuelle Feld der Weimarer Zeit ermöglicht, sondern auch wertvolle Anknüpfungspunkte für weitere Studien im Bereich der Intellektuellenforschung geboten.
Monika Cziller