Gerhard Wolf: Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen (= Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts), Hamburg: Hamburger Edition 2012, 528 S., 19 Abb., 1 Karte, ISBN 978-3-86854-245-5, EUR 28,00
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Die Erforschung der nationalsozialistischen "Volkstumspolitik" erfreut sich seit einiger Zeit einer gewissen Konjunktur. In den letzten Jahren erschienen mehrere Monographien, weitere Promotionen sind in Arbeit. Hier reiht sich Gerhard Wolf mit seiner in Berlin bei Michael Wildt verteidigten Dissertation ein, die auf Archivrecherchen in Deutschland, Österreich, Polen und Russland beruht. Darüber hinaus profitiert die Studie von der profunden Literaturkenntnis des Autors. Hinzuweisen ist aber darauf, dass hier mitnichten ganz Polen betrachtet wird, sondern lediglich die ins Reich eingegliederten Gebiete Warthegau, Danzig-Westpreußen und Ostoberschlesien - für die Germanisierungspolitik in diesen drei Regionen hat das Buch aber sogar den Charakter eines Nachschlagewerks.
Wolf legt eine chronologische Darstellung vor, die er in einem Einführungskapitel mit der Geschichte der Polnischen Teilungen 1772 beginnt und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs führt. Die preußische Nationalitätenpolitik wird damit ebenso in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus einbezogen wie das Geschehen in der Weimarer Republik - jeweils als Erfahrungshintergrund, nicht in einer expliziten Kontinuitätslinie. Wolf geht es vor allem um die Frage, wie weit die Ideologie des NS-Regimes das konkrete Handeln vor Ort im Osten bestimmte. Sehr klar kann er auf fast 500 Textseiten nachweisen, dass pragmatische Kriterien meist viel wichtiger waren als Vorstellungen von Volk und Rasse. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kam 2011 bereits Andreas Strippel in seiner Untersuchung der Einwandererzentralstelle Litzmannstadt, der sich der Volkstumspolitik mit einem institutionengeschichtlichen Zugriff näherte. [1] Beide Bücher ergänzen sich sehr gut, selbst wenn sie sich gegenseitig nicht perzipieren konnten.
Was bei Wolf ganz besonders besticht, ist seine präzise Auswertung der Literatur. Indem er die Zusammenhänge von Germanisierung und Holocaust konsequent betont und analysiert, kann der Autor manche Unklarheiten beseitigen und gelangt mehr als einmal zu instruktiven Neubewertungen von nur scheinbar nebensächlichen Details. So herrscht bislang zum Nisko-Plan, also der Deportation von rund 5.000 Juden in die gleichnamige ostpolnische Kleinstadt im Oktober 1939, die Meinung vor, die Aktion sei als Fehlschlag abgebrochen worden, weil die Umsiedlung der Volksdeutschen in Westpolen Priorität gehabt habe. Wolf dagegen zeigt, dass dies weniger ein Scheitern und ein Ende war, sondern nur ein dazugehöriger Baustein der Germanisierungspolitik, denn mit der "Umsiedlung" der Juden aus dem Warthegau und Westpreußen wurden diese Regionen zugleich "deutscher" - eben weil weniger Juden dort lebten.
Sicherlich ist Wolf nicht der Erste und nicht der Einzige, der derlei Zusammenhänge zwischen Bevölkerungspolitik und dem späteren Massenmord betont. Gerade weil er seine eigene Einschätzung stark herausstellt, fällt auf, dass der Forschungsstand nicht immer so einseitig ist, wie es hier behauptet wird. Die mehrfach postulierte intentionalistische Sichtweise auf die NS-Ideologie, nach der diese meist nur im Hinblick auf ihren handlungsleitenden Gehalt beurteilt würde, ist gerade in der Holocaustforschung zu Osteuropa in der letzten Dekade kaum mehr zu beobachten; Historiker wie etwa Christian Gerlach oder Dieter Pohl betonen immer wieder die Vermischung der Ideologie mit ökonomischen, pragmatischen oder situativen Motiven bei den lokalen Entscheidungen.
Zweifelhaft ist beispielsweise auch die Wertung, dass spätestens mit der Jahreswende 1941/42 Deportationen kein Instrument der Bevölkerungs-, sondern nur noch der Arbeitsmarktpolitik gewesen seien (343). Das trifft für die polnische Bevölkerung sicher zu, lässt aber außer Acht, dass im Generalgouvernement just Anfang 1942 die Deportationen von hunderttausenden Juden in die Vernichtungslager einsetzten. Auch war deren Arbeitsleistung wegen der Zwangsarbeiterdeportationen nicht entwertet (360f.), sondern wurde, rein ökonomisch betrachtet, gerade deshalb vor Ort mehr denn je benötigt - was etwa Zivilverwaltung und Wehrmacht im Generalgouvernement durchaus so feststellten. Der Massenmord fand trotzdem statt.
Kritik an Wolfs Buch entzündet sich aber höchstens an einigen seiner Bewertungen. Gerade das macht aber die Studie jedoch auch anregend, denn sie fordert zur Auseinandersetzung auf - und in den meisten Fällen zur Zustimmung. Das gilt ganz besonders für die Betonung des pragmatischen Vorgehens selbst auf vermeintlich so ideologisch aufgeladenen Politikfeldern wie der Germanisierung. Deutlich wird auch, wie sehr diese nicht nur über Exklusion, sondern auch über Inklusion stattfand; Letzteres bedeutete zudem immer wieder Aushandlungsprozesse, ob denn für einen "Deutschen" dessen politische Gesinnung, Kultur und Sprache oder gar rassische Merkmale entscheidend seien. Wie Wolf sehr überzeugend zeigt, gab es keinesfalls ein Prärogativ der Rasse.
Unter den Nationalsozialisten wurden aus "Auslandsdeutschen" die "Volksdeutschen", aus der "Minderheit" eine "Volksgruppe" im "Volkstumskampf". Wie deren Inklusion und auch Indoktrination im Alltag aussah, ist nach wie vor unbekannt und ein Desiderat für weitere Forschungen. Das in letzter Zeit so häufig bemühte Konzept der "Volksgemeinschaft" könnte damit an einem besonders lohnenswerten Beispiel praktisch untersucht werden. Mit Wolfs Buch liegt dafür eine Grundlage vor, die die Geschichte der NS-Germanisierungspolitik zwischen Reich und Regionen überzeugend darstellt und einer Neubewertung im Kontext der antijüdischen Maßnahmen unterzieht.
Anmerkung:
[1] Andreas Strippel: NS-Volkstumspolitik und die Neuordnung Europas. Rassenpolitische Selektion der Einwandererzentralstelle des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD 1939-1945, Paderborn u.a. 2011.
Stephan Lehnstaedt