Justin Kroesen / Regnerus Steensma: Kirchen in Ostfriesland und ihre mittelalterliche Ausstattung, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2011, 272 S., zahlreiche Farbabb., ISBN 978-3-86568-159-1, EUR 39,95
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Ein Fokus der mittelalterlichen Architektur- und Kunstgeschichte lag bekanntlich schon immer auf den großen Dom- und Klosterkirchen mit ihrer komplexen und künstlerisch anspruchsvollen Ausstattung. Daneben bemühen sich aber auch seit langem verschiedene Wissenschaftler durch die Erforschung ländlicher Pfarrkirchen um die Charakterisierung und Analyse geografischer "Kirchenlandschaften". Diese meist nur wenig beachteten Arbeiten zu vergleichsweise bescheidenen Monumenten waren früher eher deskriptiv oder auf eine typologische Einordnung der schlichten Architektur ausgerichtet. Doch in den letzten Jahren sind Studien dazugekommen, die die kleinen Kirchen und ihre Ausstattungen auf funktionelle und kulturgeschichtliche Zusammenhänge untersuchen und letztlich fragen, wie der einfache Gläubige seine Pfarrkirche und ihre Einrichtung während der Liturgie erlebt hat.
Wichtige Untersuchungen in dieser Richtung wurden von dem niederländischen Altmeister Regnerus Steensma und seinem Nachfolger am Fachbereich Theologie der Universität Groningen, Justin Kroesen, durchgeführt. Für ihr 2004 publiziertes, regional weit ausgreifendes Buch "The Interior of the Medieval Village Church" haben sie umfassende Studienreisen zu kleinen Kirchenbauten in ganz Europa durchgeführt. [1]
In dem vorliegenden Buch handelt es sich hingegen um eine Regionalstudie zu Ostfriesland, dem Küstenland zwischen Bremen und der holländischen Grenze. Man wundert sich vielleicht, dass zwei holländische Forscher ein deutsches Gebiet für eine solche Untersuchung wählten. Der Grund ist jedoch offensichtlich: Die Kirchen in ihrer eigenen Region, im Groninger Land, hatten in der Reformationszeit unter einer stark ausgeprägten calvinistischen Bilderfeindlichkeit und einem rigiden Puritanismus zu leiden, sodass hier fast keine mittelalterliche Bildkunst mehr existiert. Das deutsche Ostfriesland hingegen, das im Mittelalter eine mit dem Groninger Land zusammenhängende Kulturlandschaft bildete, ist ein auffallend reiches und interessantes Untersuchungsgebiet - dank der im Buch immer wieder erwähnten "erhaltenden Kraft des Luthertums".
Der Schwerpunkt des Buches liegt nicht auf den Gebäuden selbst, die nur in einem Kapitel, dem zu den "Bautypen" (9-24) gesondert behandelt werden. Doch spielt die Architektur als Rahmen in den anderen 19 Kapiteln ständig eine Rolle, besonders in den Abschnitten "Wandmalereien und Frömmigkeitspraxis", "Altäre", "Altarretabel", "Sakramentshäuser", "Piscinen", "Sonstige Nischen" und "Metallgegenstände". Ein wenig für sich steht das letzte Kapitel "Wechselfälle seit dem Mittelalter" (259-268), das die Entwicklung der Einrichtungen nach der Reformation sowohl in lutherschen Gemeinden als auch in den calvinistischen Gemeinden Ostfrieslands behandelt. Zu jedem Kapitel gehört ein umfangreicher Anmerkungsapparat, den Schluss bilden eine Auswahlbibliografie sowie ein Ortsregister. Hier kann nur eine Auswahl der Themen hervorgehoben werden, die sich zum Teil aus den Erfahrungen des Rezensenten als Denkmalpfleger in einer anderen lutherischen "Kleinkirchenlandschaft" (Jütland) ergibt.
Von den 125 mittelalterlichen Landkirchen Ostfrieslands sind die allermeisten romanisch und frühgotisch, und sie wurden aus Granitquadern und Backstein sowie in bescheidenem Umfang aus rheinischem Tuffstein errichtet. Der Beginn der Bautätigkeit in Stein wird gegen 1150 angesetzt. Auffallend ist, wie viele Bauten den Charakter eines Apsissaals ohne architektonischen Chor und Triumphwand besitzen. Interessant ist auch die ansonsten seltene, aber hier recht verbreitete Verwendung von Granitquadern, die von den Autoren allerdings nicht problematisiert wird. Dieses Baumaterial kommt nur in wenigen anderen europäischen Kirchenlandschaften vor, und zwar besonders in der Bretagne und in Jütland. Dort haben die Steinmetzen auch eine nicht unbeträchtliche Menge von Granitskulpturen hinterlassen, was aber in Ostfrisland nicht der Fall war.
Eine kleine Sensation ist die Publikation eines 2004 aufgetauchten frühen Retabels in der Kirche von Wiarden. Es besteht aus einer niedrigen Predella mit Tafelmalerei, flankiert von zwei Stützen mit sternenförmigem Abschluss. Der Aufbau wird dendrochronologisch ins frühe 14. Jahrhundert datiert. Das Retabel bildet mit mehreren, meist älteren Vergleichswerken in Kirchenlandschaften wie Schleswig, Jütland und Westschweden eine Gruppe, die einen bemerkenswerten Typus zeigt, der als wenig bekannter Vorläufer des Flügelaltarschreins gelten kann. Von spätmittelalterlichen Flügelaltären sind in Ostfriesland 14 erhalten. Einige werden dem sogenannten Meister von Osnabrück zugeschrieben und scheinen also importiert zu sein. Fast alle sind Passionsaltäre, was sich durch eine theologisch bestimmte nachreformatorische Auslese erklären lässt.
Die Entdeckungsfreude der Verfasser galt nicht zuletzt den fast gänzlich entfernten Seitenaltären. Sie können nachweisen, dass es in jeder Pfarrkirche mehrere gab. Von ihrer ehemaligen Existenz zeugen Nischen, Altarplatten, niedrige Fenster und das Vorhandensein von Lettnern. Doch gibt es noch weitere Zeugnisse, da die meisten der in dem Kapitel "Plastiken" (196-211) aufgeführten Einzelwerke die Überreste von Seitenaltarbildern sein dürften.
Lettner, große Lese- und Sängertribunen vor dem Chor, werden oft als spezielle und exklusive Einrichtungen für Dom- und Klosterkirchen angesehen. Es ist deshalb überraschend, dass die Verfasser 26 Pfarrkirchenlettner nachweisen können, von denen immerhin fünf erhalten sind. Sie sind sämtlich spätmittelalterlich und aus Stein gebaut, im Unterschied etwa zu den noch zahlreicheren englischen "Rood Lofts" in Pfarrkirchen, die fast immer aus Holz errichtet wurden.
Während die mittelalterlichen Taufen heute in oder in der Nähe des Chors stehen, war ihr ursprünglicher Platz im Westen des Schiffes, wo durch archäologische Ausgrabungen Reste von zirkulären Podien nachgewiesen werden konnten - genau wie in Skandinavien. In der Zeit, als noch keine einheimische Steinbildhauerkunst existierte, wurden fast alle Taufen aus Nachbarlandschaften importiert, die sich auf die Produktion solcher Objekte spezialisiert hatten; sie bestehen meist aus Bentheimer Sand-, Namurer Blau- und Baumberger Kalkstein.
Man glaubt gern, dass auch Kanzeln zur spätmittelalterlichen Einrichtung der ostfriesischen Kirchen gehörten. Ganz überzeugt wird man aber durch die aufgeführten Stücke nicht. Sie haben zwar gotische Profile und Fialen sowie ein deckendes Faltenwerk, doch lebten diese Motive in der Möbelkunst noch sehr lange fort. Dies war auch in Jütland der Fall, wo manche derartige Kanzel mit einer Jahreszahl bezeichnet wurde, die in keinem einzigen Fall vor der Reformationszeit liegt.
Es ist zweifellos ein Gewinn, dass die Kirchenräume stets im Lichte der konfessionellen Entwicklungen gesehen werden, und es ist aufschlussreich, dass die Verfasser auch ihre Beobachtungen zur nachmittelalterlichen Entwicklung darlegen. Hier halten sie es - hinsichtlich ihrer Sorgen um den Erhalt der Inventarstücke - durchaus mit den Lutheranern der frühen Neuzeit. Wie auch bei den anderen Publikationen der Verfasser haben sie selbst ihre Fotos aufgenommen und vorbildhaft mit dem Text koordiniert. Das Buch dient somit nicht nur der Wissenschaft, sondern ist auch ein Vergnügen für das Auge.
Anmerkung:
[1] Regnerus Steensma / Justin Kroesen: The Interior of the Medieval Village Church. Het Middeleeuwse Dorpskerkinterieur, 2. Aufl. Leuven 2012 (1. Aufl. Leuven u.a. 2004).
Ebbe Nyborg