Steffen Kachel: Ein rot-roter Sonderweg? Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 29), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, 599 S., ISBN 978-3-412-20544-7, EUR 64,90
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Die Literatur zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert wird bislang vom Bild der scharfen Konfrontation zwischen den verschiedenen politischen Lagern geprägt. Insbesondere im Verhältnis zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten dominiert bislang eine Sicht, in der sich die KPD im Verlauf der 1920er Jahre zu einem gehorsamen Befehlsempfänger Moskaus wandelte, was eine politische Zusammenarbeit zwischen diesen beiden großen Teilen der Arbeiterbewegung auf allen Ebenen nahezu unmöglich machte. Mit diesem Ansatz steht folgerichtig auch die 1946 entstandene SED nicht in der Tradition der demokratisch-sozialistischen Arbeiterbewegung, sondern bildet einen deutschen Ableger der Moskauer Kaderpartei. Steffen Kachel setzt nun hinter der Annahme, die Gründung der SED sei ein eklatanter Bruch mit den freiheitlich-sozialistischen Zielen der deutschen Arbeiterbewegung gewesen, ein großes Fragezeichen.
Kachel stützt seine Argumentation sehr stark auf die regionalen Besonderheiten Thüringens, wo eben nicht Moskau-Emigranten, sondern Buchenwald-Häftlinge nach 1945 die Führungspositionen in Partei und Verwaltung übernahmen. Ebenso verweist er auf die Traditionen der Arbeiterbewegung in Thüringen vor 1933, der viele regionale Eigenheiten und politisch-soziale Prägungen und Mentalitäten zugeschrieben werden. Diese hätten sich dann auch auf das Verhältnis zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten ausgewirkt. Insofern erscheint Thüringen als ein Sonderfall im politischen Alltag zwischen 1919 und 1949. Inhaltlich konzentriert er sich ausschließlich auf den parteipolitisch organisierten Kern der Arbeiterbewegung. Die Darstellung endet mit der Gründung der DDR, da die SED in der Sicht Kachels seitdem nicht mehr als soziale Bewegung, sondern als "mit dem neuen Staat verschmelzende Staatspartei" agiert habe. (S. 19) Deshalb folgt er auch der häufig gebrauchten Formel vom Ende der Arbeiterbewegung in Ostdeutschland. Die Fixierung auf das Jahr 1949 ist jedoch nicht so recht schlüssig, da der institutionelle Einbau von KPD und SED in das neue politische System ja bereits seit Mai 1945 erfolgte und schon zu diesem Zeitpunkt wesentliche Elemente und Funktionen der traditionellen Arbeiterbewegung faktisch "verstaatlicht" wurden.
Das erste Kapitel widmet sich vor allem der politischen Kultur und den sie prägenden Persönlichkeiten in Thüringen in dem behandelten Zeitraum. Hier geht Kachel einer Frage nach, die für die Darstellung zentral und erkenntnisleitend ist: Inwieweit konnten die traditionellen sozialistischen Milieus nach dem Ende von Nationalsozialismus und Krieg wieder belebt und rekonstruiert werden? Sein Befund fällt tendenziell negativ aus: "Obwohl das Jahr 1945 an vielen Stellen auf Kräfte, Bestrebungen, Ideen und Strukturen der Zeit vor 1933 zurückgriff, spricht doch vieles dafür, dass das alte sozialistische Milieu der Weimarer Zeit NS-Diktatur und Krieg insgesamt gesehen nicht überstanden hat" (52). So habe sich in Thüringen bis zum Herbst 1946 eine neue politisch-gesellschaftliche Infrastruktur herausgebildet, die vielfach mit Weimarer Strukturen und Mentalitäten gebrochen hatte. Aufschlussreich sind die statistischen Analysen und Befunde Kachels über die politischen Akteure in Thüringen nach 1945: Die übergroße Mehrheit von "Personen aus Thüringer Partei- und Milieufunktionen vor 1933" engagierte sich nach 1945 wieder im Funktionärskörper von SPD, KPD und SED (122). Lediglich acht Prozent der erfassten regionalen Funktionäre waren vor 1933 nicht politisch aktiv gewesen.
Das zweite Kapitel zeichnet die Entwicklung der Thüringer Sozialdemokratie sowie der KPD in Thüringen bis 1933 ereignisgeschichtlich nach und stellt die jeweiligen politischen Kurswechsel und deren Protagonisten vor. Dabei diagnostiziert Steffen Kachel für die SPD in Thüringen eine spezielle "linke" politische Prägung, während er die KPD "rechts" von der Berliner Parteilinie verortet. Insofern hätten es die regionalen Parteiführer auch im Unterschied zu ihren jeweiligen Zentralen leichter gehabt, sich über gemeinsame politische Aktionen zur Rettung der Republik zu einigen. Die speziellen politischen Prägungen konstatiert Kachel auch für den illegalen Widerstand nach 1933 und insbesondere für die politische Arbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten im Konzentrationslager Buchenwald. Höhepunkt dieser gemeinsamen Arbeit sei die Bildung eines "deutschen illegalen Volksfront-Komitees" im Lager gewesen, das von kommunistischen Häftlingen initiiert und vom Sozialdemokraten Hermann Brill intellektuell geprägt wurde.
Die beiden folgenden Kapitel befassen sich mit den Jahren von 1945 bis 1949. Hier zeigt Kachel auf der Grundlage von Dokumenten aus dem Bundesarchiv in Berlin und Unterlagen der Thüringischen Staatsarchive, dass der politische Aktionsradius von SPD, KPD und SED auch unter sowjetischen Besatzungsbedingungen sehr viel widersprüchlicher und komplexer war, als dies das eindimensionale Bild vom Befehlsempfänger Moskaus suggeriert. Um das bislang gängige Muster von Sowjetisierung und Stalinisierung zu hinterfragen, nimmt Kachel den politischen Alltag in den Beziehungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten in den Blick und analysiert, wie die deutschen Funktionäre die besatzungspolitischen Vorgaben wahrnahmen und welche Handlungsstrategien sie daraus ableiteten. Damit wird ein Ansatz gewählt, der das Selbstverständnis, die Vorstellungswelten und die Mentalität deutscher Sozialdemokraten und Kommunisten in die Analyse mit einbezieht und damit auch die langfristig wirkenden regionalen Traditionen erfassen kann. Dagegen bleibt die Frage, welche Auswirkungen die deutschlandpolitischen Kalküle Stalins und der sowjetischen Besatzungsmacht auf die politischen Orientierungen und Entscheidungen der örtlichen Funktionäre in Thüringen nun ganz konkret hatten, weitgehend unbeantwortet.
Kachel ist es gelungen, den Stellenwert regionaler politischer Prägungen und Netzwerke aus der Arbeiterbewegung der Weimarer Zeit für die politische Entwicklung Thüringens in den Jahren von 1945 bis 1949 überzeugend herauszuarbeiten. Der Nachweis, dass die politische Entwicklung in Thüringen nach 1945 im Unterschied zu anderen Ländern der sowjetischen Zone in "größerem Umfang" an Ziele, Mentalitäten und Prägungen der Arbeiterbewegung der Weimarer Zeit angeknüpft habe, ist ihm jedoch nicht gelungen. Der Verfasser stellt hierbei personelle Kontinuitäten in den Vordergrund und rückt gleichzeitig besatzungspolitische Direktiven sowie die politischen Zugriffsmöglichkeiten der Berliner Parteizentrale, zumindest bis 1948/49, in den Hintergrund. Diese Sicht kann nicht völlig überzeugen. Wenngleich die regionalen Politiker von SPD, KPD und wohl zunächst auch in der SED noch immer stark im Milieu der sozialistisch/sozialdemokratisch orientierten deutschen Arbeiterbewegung verankert waren, konnten sie die politische Entwicklung in Thüringen nicht von den Grundsätzen sowjetischer Deutschlandpolitik abkoppeln.
Gerade in diesem Punkt wäre eine Analyse von Handlungsspielräumen und administrativer Kompetenz sowjetischer Kommandanten vor Ort sowie der sowjetischen Militärverwaltung in Thüringen wichtig gewesen. Ohne die Intentionen sowjetischer Besatzungspolitik vor Ort einzubeziehen, ist die Frage nach der Reichweite zentraler Sowjetisierungsabsichten und ihrer Wirksamkeit nicht zu beantworten. So muss bezweifelt werden, ob - wie Kachel resümiert - in Thüringen regionale, auf Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung beruhende Politik sich in den ersten Jahren gegen zentrale Direktiven der SMAD aus Berlin behaupten konnte.
Ungeachtet dieser Einwände hat Kachel eine sehr beachtenswerte Arbeit vorgelegt, die uns immense und zum Teil unbekannte Kenntnisse und Details über den politischen Aktionsradius der überwiegend in SPD und KPD organisierten Aktivisten der Arbeiterbewegung in Thüringen vermittelt. Sein Verdienst besteht vor allem darin, auf regionale Differenzierungen und Traditionen hingewiesen zu haben, die bei der Analyse von politischen Milieus zu berücksichtigen sind. Unter diesem Blickwinkel lohnt es sich durchaus, spezifisch lokale Prägungen sowie biographische Eigenheiten in struktur- und personengeschichtliche Untersuchungen mit einzubeziehen. Gleichwohl stellt sich dann immer die Frage nach dem Stellenwert derartiger Besonderheiten.
Andreas Malycha