Siri Hustvedt: Mit dem Körper sehen: Was bedeutet es ein Kunstwerk zu betrachten? (= Internationale Schelling-Vorlesung an der Akademie der Bildenden Künste München; Vol. 3), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010, 72 S., ISBN 978-3-422-07015-8, EUR 14,90
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Was macht die Begegnung mit Kunst aus? Sind es die wahrnehmbaren Inhalte? Gegen diese Auffassung verwahrt sich die amerikanische Romanschriftstellerin und Essayistin Siri Hustvedt eindeutig. In unterschwelligen Stadien entfalte die Kunst vielmehr eine "affektive oder emotionale Qualität", sodass diese uns unmittelbar angehe. Im Rahmen eines Vortrags in der Reihe der Schelling Lectures 2010 an der Kunstakademie in München, der im Deutschen Kunstverlag als Band 3 in Deutsch und Englisch erschien, stellte sie ihren Ansatz vor.
Es ist schon bemerkenswert, dass ausgerechnet eine so schillernde Persönlichkeit wie Siri Hustvedt, die gemeinsam mit Paul Auster eines der glanzvollsten New Yorker Intellektuellenpaare bildet [1], einen Beitrag zur Diskussion um das Verhältnis von Form und Inhalt und damit auch der Frage nach dem Auslöser für die Wirkungskraft in den von Vorbehalten gegenüber diesen Fragen geprägten europäischen Kontext der Kunst und Kunstgeschichte einbringt. Ob mit Erfolg, muss sich noch zeigen. Dass Kunst nicht allein über Inhalte und Kontext oder gar über die Meisterwerkidee greifbar ist, ist seit Beginn der Kunstgeschichtsschreibung und spätestens seit Alois Riegls Besprechung der spätrömischen Kunstindustrie 1901 präsent. [2] Diese Einsicht in die Bedeutung der Form und deren Rezeption geriet jedoch, auch unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Ideologie, aus dem Blickfeld der Forschung und erfährt erst in jüngerer Zeit mit dem Aufkommen der Bildwissenschaften seit den 90er-Jahren erneut Beachtung. [3] Für ein europäisches Publikum recht ungewöhnlich ist es diese amerikanische Schriftstellerin mit Wurzeln in Norwegen, die in der Tradition Susan Sontags die Grundlagen dieser Idee in der europäischen Philosophie und ergänzend in der jüngeren neurowissenschaftlichen Forschung zu einem neuen Ansatz verdichtet und uns vorstellt.
Verantwortlich dafür, dass Kunst uns berühren könne, sei das, wie etwas ausgeführt ist. Ein Stillleben von Francisco de Zurbarán von 1633 mit "einfachen" Zitronen, Orangen und einer Rose dient ihr dafür als ein Beispiel (51-57, hier 55). Über das formale Erscheinungsbild werde der Betrachter auf einer "präreflexiven" Ebene angesprochen (17). So spreche uns die Kunst auf einer unbewussten Ebene an, in der wir körperlich wahrnehmen. Es ist diese Ebene, die entsprechend vom Künstler im Sinne Schellings verarbeitet werde (25f.). Der Drang zu gestalten gleiche insofern mit Merleau Ponty einer "verleiblichten Intentionalität" (33). Entsprechend sei es die Bewegung in mir, im Betrachter, die über das Werk angeregt werde. Insofern gleiche die Erfahrung mit der Kunst einer Begegnung mit einem "Du" statt "Es". Von daher sei die Beziehung zum Werk eine dialogische, von Künstler und Betrachter. Verantwortlich dafür sei unsere Fähigkeit zur "Propriozeption", d.h. sich über die Bewegung im Raum uns in diesem zu orientieren (37). Diese Art der motor-sensorischen Wahrnehmung sei trotz ihrer anthropologischen Fundierung schon immer kulturell, aber auch vom Temperament geprägt und von daher nicht neutral: "Ich fliege nicht aus meinem Körper und meiner persönlichen Geschichte hinaus, wenn ich im Metropolitan Museum of Art in New York vor Duccios Madonna mit Kind stehe." (39) So werde die Größe, Farbe etc. eines Werkes im Sinne einer Orientierung im Raum ("präattentiv") wahrgenommen, wobei wir zugleich "aufgrund vergangener körperlicher Erfahrungen auf seine wahrgenommene Salienz oder Bedeutung" reagieren. Noch vor einer womöglich gegenständlichen Benennung zeichnen sich unsere Reaktionen von daher durch eine "affektive oder emotionale Qualität" aus (43). Neurowissenschaftliche Forschungen dazu, wie wir wahrnehmen, stehen, laut Hustvedt, noch am Anfang (47). Doch dass auch das Wahrnehmen von Lernprozessen geprägt ist, zeichne sich in ihnen ab. [4] Schlussfolgernd hält Hustvedt fest, wir sind "verleiblichte kreativ Sehende" (49). Diese Fähigkeit erlaube es uns schließlich, wie Hustvedt abschließend verdeutlicht, wie Kinder es ab 3 Jahren aktiv vollziehen, Bedeutungen zu verwandeln, etwa einen Stock in ein Pferd (61). Kunst sei schließlich der Raum, so Hustvedt im Anschluss an Merleau Ponty, in dem wir auf spielerische, experimentelle Weise diese Verwandlung vollziehen können. Das Erschaffen dieser virtuellen Räume zeichne sich durch "intentionale Bewegung hinaus zu Anderen hin und in das Anderssein hinein" aus (63). Nach Freud und Winnicott, die Hustvedt hier aufgreift, werde ein Zwischenraum erkennbar, der außerhalb des Individuums, aber nicht Außenwelt sei. So eröffnet sich mit Schelling ein Raum des Dialogs mit der Wahrnehmung des Anderen, des Künstlers. Auch bzw. weil dieser Austausch unterschwellig erfolge und vom Wahrheitsanspruch geprägt sei, vermag dieser sich zu einer "gewaltigen diskursiven Auseinandersetzung entwickeln" (65). Eine Erkenntnis, die jüngere Forschungen bestätigen. [5]
Anmerkungen:
[1] Vgl. zur Einschätzung Sri Hustvedts die Besprechung in der Süddeutschen Zeitung von Meike Fessmann v. 23.03.2011 über den 2011 erschienen Roman "Der Sommer ohne Männer" unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/siri-hustvedt-der-sommer-ohne-maenner-freudiges-wueten-1.1076079 und ergänzend die Homepage der Autorin: http://sirihustvedt.net/.
[2] Vgl. zur Einordnung Riegls bzw. zur Geschichte der formalen Ästhetik die Schrift des Phänomenologen Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes, Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Frankfurt am Main 2008 (1997).
[3] Einen erheblichen Anteil an der Ausblendung dieser Frage nach dem II. Weltkrieg hatte bemerkenswerterweise ein Schüler Riegls, der Kunstwissenschaftler Hans Sedlmayr, der, ohne die Grundlagen seiner Annahme zu hinterfragen, auf die notwendige, stimmige Beziehung von Form und Inhalt abhob. Offensichtlich wird diese Auffassung in seiner Beurteilung der Moderne, die durch einen "Verlust der Mitte" gekennzeichnet sei. Als Beispiel für eine solche "kritische Form" der Moderne verwies Sedlmayr u.a. auf Kugelentwürfe für Gebäude. Vgl. hier ders.: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1983 (1948), 9.
[4] In bemerkenswerter Klarheit arbeitet Christine Marks in ihrer Doktorarbeit die philosophischen und neurobiologischen Grundlagen von Siri Hustvedts Ansatz heraus: Vgl. hierzu dies.: Identity Formation at the Beginning of the Twenty-First-Century: Intersubjectivity, Art, Medicine in Siri Hustvedt's Works, Diss. Mainz 2011, in: http://ubm.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2011/2671/. Vgl. ergänzend zudem den Beitrag von mir zum Zusammenhang von Entwicklungspsychologie / Neurowissenschaft und Kunstgeschichte vor dem Hintergrund von Form als Grundlage von Wahrnehmungs- und Gestaltungsprinzipien, in: http://www.kunstgeschichte-ejournal.net/134/ (2011) sowie den SWR-Radiobeitrag dazu: http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/archiv/ein-bild-ist-ein-bild/-/id=660334/nid=660334/did=9584814/140u4a8/index.html (27.5.2012).
[5] Vgl. hierzu meine jüngste Schrift: Martina Sauer: Faszination und Schrecken. Zur Handlungsrelevanz ästhetischer Erfahrung anhand Anselm Kiefers Deutschlandbilder, Heidelberg 2012: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2012/1851/.
Martina Sauer