Stefan Morét: Römische Barockzeichnungen im Martin-von-Wagner-Museum der Universität Würzburg (= Bestandskataloge der graphischen Sammlung des Martin-von-Wagner-Museums der Univerität Würzburg; Bd. IV), Regensburg: Schnell & Steiner 2012, 400 S., 47 Farb-, 498 s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-2514-2, EUR 86,00
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Der mit sehr qualitätvollen Abbildungen großzügig ausgestattete Bestandskatalog der römischen Barockzeichnungen im Martin-von-Wagner-Museum der Universität Würzburg, Ergebnis einer fünfjährigen Förderung durch die DFG, bietet einen wertvollen Baustein für einen noch zu schreibenden Überblick zur barocken Zeichenkunst. Für die in 419 Katalognummern erfassten Handzeichnungen, drei Viertel bis dato unpubliziert, können 80 verschiedene Künstler (oder ihr Umfeld) als Urheber benannt oder zumindest wahrscheinlich gemacht werden. Die zeitliche Spanne der vertretenen Künstler reicht von Cristofano Roncalli (1552-1626) und Giuseppe Cesari, gen. Cavalier d'Arpino (1568-1640) bis zu Felice Giani (1758-1823) und Bartolomeo Pinelli (1781-1835).
Morét führt zunächst in die Geschichte der Sammlung ein (9-22), beschreibt ihre Herkunft, ihre Schwerpunkte und die Absichten des Sammlers Martin von Wagner (1777-1858), selbst Maler und Bildhauer, zudem Kunstagent für Ludwig I. von Bayern. Wagners akademischer Ausbildung sind drei Sammelschwerpunkte geschuldet - die klassizistische Tendenz der Maratti-Schule, Aktstudien sowie eine größere Gruppe von Kopien vorbildlicher Werke. Zugleich prägte ein gewisses kunsthistorisches Anliegen die Auswahl: Anders als z.B. die außergewöhnliche Sammlung barocker Zeichenkunst im Museum Kunstpalast in Düsseldorf, die ausgesprochen große Konvolute einzelner Zeichner umfasst, erwarb Wagner eher einzelne Werke verschiedener Künstler und erzielte so ein entsprechend breites Spektrum.
Im Katalog widmet sich Morét in vier Abschnitten den Zeichnungen des Seicento (73-201; Kat. 1-151) und des Settecento (203-351; Kat. 152-358), den anonymen Zeichnungen (352-373; Kat. 359-392) sowie den anonymen Kopien nach Werken der älteren Kunst in Rom (374-387, Kat. 393-419). Innerhalb der Abschnitte zum Sei- und Settecento sind die Blätter nach Künstlernamen alphabetisch angeführt. Diese durchaus klassische und bewährte Lösung hat Konsequenzen: Das Denken in einzelnen Nummern und die lexikalische Anordnung lassen kaum ein Gefühl für das den römischen Barock besonders charakterisierende Geflecht von künstlerischen Beziehungen entstehen - ein überaus engmaschiges Netz von zahllosen Künstlern, die gleichzeitig oder nacheinander in der Ewigen Stadt tätig und denselben Vorbildern ausgesetzt waren, für vergleichbare Aufgaben unterschiedliche Lösungen entwickelt haben (z.B. die Visionsdarstellungen bei Conca, Garzi, Masucci oder Procaccini) und unter Konkurrenzdruck Auftraggeber und Publikum von ihrer Qualität überzeugen mussten. Vergleichbare Phasen im Werkprozess (z.B. Kopfstudien bei Cavallucci, Cortese, Grecolini oder de' Pietri) bleiben ebenso einzelne Nummern wie thematische Übereinstimmungen (vgl. z.B. die Geschichte von Tobias und dem Engel bei Pier Francesco Mola, Kat. 112, Giacinto Calandrucci, Kat. 19, und einem Anonymen des Maratti-Umkreises, Kat. 97). Als Dilemma entpuppt sich die Unterteilung zwischen Sei- und Settecento, die eine Umbruchzeit suggeriert, wo keine ist - in diesen Jahrzehnten wurden die Errungenschaften des 17. Jahrhunderts modifiziert und sozusagen zukunftsfähig gemacht: Betroffen sind hiervon z.B. Giovanni Antonio Grecolini (1675-1725) (Kat. 68), Giovanni Odazzi (1663-1731) (Kat. 118), Andrea Procaccini (1671-1734) (Kat. 137-139) und Giovanni Paolo Melchiori (1664-1745) (Kat. 101-111) - alle dem Seicento zugeordnet - sowie ein unbekannter Kopist nach Camillo Rusconi (ca. 1654-1728) (Kat. 345), Pier Leone Ghezzi (1674-1755) (Kat. 281-292) und Francesco Fernandi, gen. Imperiali (1679-1740) (Kat. 276-278) im Settecento-Abschnitt.
In der Würzburger Universitätssammlung haben zahlreiche bemerkenswerte Stücke ihren Platz gefunden: so z.B. die stark stilisierte Kompositionsstudie des Marientods von Giovanni Baglione für die Cappella Maggiore in Santa Maria dell'Orto in Trastevere (Kat. 8), ein figurenreicher Kuppelentwurf von Giovanni Odazzi (Kat. 118), der noch auf seine Identifizierung wartet, die bildhaft ausgeführte Allegorie auf die Wahl Papst Clemens XI. Albani von Giuseppe Passeri (Kat. 120), der zarte Deckenentwurf für die Sala Celeste im Palazzo Doria Pamphilij von dem als Zeichner kaum bekannten Pietro Angeletti (Kat. 154) und die im dramatischen Hell-Dunkel malerisch gestaltete Studie Domenico Corvis zur zentralen Figurengruppe seiner Komposition Gideon mit dem Vlies (Kat. 258). Erwähnenswert sind auch die skizzierten Überlegungen von Giovanni Battista Lenardi, wie die Übergabe der Waffen an Aeneas am überzeugendsten zu komponieren sei (Kat. 74). Wagners Sammlung bietet zudem repräsentatives Material für einen Vergleich der künstlerischen Positionen um und nach 1700 in Schule, Umkreis und Nachfolge von Carlo Maratti bei Giacinto Calandrucci, Giuseppe Chiari, Guglielmo Cortese, Giovanni Paolo Melchiori, Pietro de' Pietri und anderen sowie bei mehreren nicht identifizierten Nachfolgern. Neben Hauptwerken und Arbeiten von Schülern, Mitarbeitern und Nachfolgern steht eine durchaus beachtliche Anzahl an Kopien, die als typisch für eine Sammlung wie die Wagnersche gelten kann. Eindrucksvoll sind schließlich die Aktstudien, die Morét dem aus Mailand stammenden und in Bologna ausgebildeten Francesco Caccianiga zuweist (Kat. 180-208), wie auch weitere, anonyme Aktstudien (u.a. Kat. 361-366), die Martin von Wagner wohl aus seinem persönlichem Interesse für die künstlerische Praxis heraus erwarb.
Mit Fleiß, Kennerschaft und in intensivem Austausch mit den Kollegen in den grafischen Sammlungen weltweit sowie mithilfe des unendlichen Bilderfundus der Fototheken der deutschen Max-Planck-Institute für Kunstgeschichte in Florenz und Rom hat Morét mühevolle und sehr wertvolle Arbeit geleistet, um den bedeutenden Würzburger Bestand fundiert für weitere Forschungen zu erschließen. Nebenbei erhält man Einblick in die medialen Praktiken der Zeichnungsforscher, die ihre Einschätzungen nicht nur in Expertengesprächen diskutieren und in Briefen bestätigen, sondern auch als "Kartonnotiz" fixieren. Moréts Konzept fokussiert - durchaus der Gattung Bestandskatalog angemessen - vorrangig Zuschreibungsfragen, seltener Deutungsfragen, noch seltener weiterführende Kontextualisierungen. Mancher Leser hätte sicher gerne eine Erklärung des Themas Vier Männer beim Kochen (Kat. 38) oder die ikonografische Unterscheidung zwischen Amphitrite, Galatea und anderen Nereiden (Kat. 44) erfahren. Wünschenswert wäre es gewesen, die jeder Katalognummer angefügten Literaturangaben nicht nur auf die Diskussion des Würzburger Blattes zu beschränken, sondern auch den (häufig mageren) Forschungsstand zum Künstler als Zeichner (oder generell) zu integrieren.
Zwischen den Zeilen und gelegentlich explizit (134, 360) mahnt Morét zu Recht die weitere Erforschung der Zeichenkunst des römischen 17. und 18. Jahrhunderts an. Die Rezensentin kann die Neudatierung der berühmten Aktstudie von Pompeo Batoni (Kat. 157) in das Jahr 1755 beisteuern; die Pose des toten Christus bei Batoni stimmt exakt mit der von Anton Raphael Mengs für den Wettbewerb der Scuola del Nudo vom März 1755 vorgegebenen Pose überein, wie die im Archiv der Accademia Nazionale di San Luca, Rom, erhaltene Preiszeichnung von Gesualdo Ferri (B.6) belegt. Moréts Bestandskatalog der römischen Barockzeichnungen in Würzburg führt die Bedeutung der Sammlung Martin von Wagners vor Augen, an der niemand vorbeikommt, der sich der wichtigen Aufgabe der Erforschung der barocken Zeichenkunst stellt - erlauben doch gerade die Handzeichnungen vielschichtige Einblicke in die künstlerische Praxis der Epoche.
Susanne Müller-Bechtel